Vorgeburtliche Untersuchungen: Was werdende Eltern wissen müssen
Interview mit Prof. Dr. Daniel Surbek
Prof. Surbek, vor welcher grundsätzlichen Entscheidung steht eine schwangere Frau im Bezug auf die Pränataldiagnostik, unabhängig von den vielen Tests, die möglich sind?
Prof. Surbek: Grundsätzlich ist immer die Frage, ob eine schwangere Frau wünscht, dass eine Diagnostik auf Chromosomenanomalien gemacht wird. Bevor sie sich dafür entscheiden kann, muss sie über die notwendigen Informationen verfügen. Eine Frau hat umgekehrt auch das Recht auf „Nichtwissen“. Vielleicht möchte die Frau Ultraschalluntersuchungen auf Fehlbildungen von einzelnen Organen (z.B. Herzfehler oder Spina bifida / offener Rücken) machen, aber nicht auf Chromosomenanomalien. Diese Grundsatzfrage muss sie sich gut überlegen, denn es gibt für Chromosomenanomalien keine heilende Behandlung. Das heisst bei einer Diagnose von Chromosomenstörungen, dass man einfach früher (schon vor der Geburt) über die Krankheit des Kindes Bescheid weiss. In vielen Fällen stellt sich dann die Frage nach einem Schwangerschaftsabbruch. Es ist daher wichtig, dass die Frauen hier frei entscheiden können und auch sagen können: "Nein, ich will das gar nicht wissen".
Prof. Dr. Daniel Surbek ist seit 2005 ordentlicher Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe und Chefarzt der Geburtshilfe und Feto-maternalen Medizin der Universitätsklinik für Frauenheilkunde des Inselspitals Bern.
Wenn man sich für die Diagnostik auf Chromosomenanomalien entscheidet, welche Möglichkeiten hat man?
Prof. Surbek: Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten.
Die Erste ist der Ersttrimestertest. Das ist eine Kombination aus Ultraschall- und Blutuntersuchung, aus denen man dann eine Risikoberechnung machen kann.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass man direkt die Zellen des Kindes oder der Plazenta untersucht. Dies ist durch eine Punktion der Plazenta (auch Chorionbiopsie genannt) oder eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) möglich. Das Ergebnis ist dann keine Risikoberechnung, sondern eine klare Diagnose.
Bei der dritten Möglichkeit handelt es sich um die neuen Blut-Tests (NIPT). Damit werden DNA-Spuren des Kindes im Blut der Mutter untersucht. Jede schwangere Frau hat eine gewissen Menge an DNA vom Kind im Blut, die Menge schwankt zwischen 5% -25%. Dieser Test hat dann z.B. bei Trisomie 21 eine Genauigkeit von 99.8%, wenn das Resultat so genannt negativ ist und somit nicht auf eine Chromosomenanomalie hindeutet. Wenn der Test auf Trisomie 21 hinweist, muss dies mittels einer Fruchtwasser- oder Plazenta-Punktion bestätigt werden, um mit Sicherheit von einer Chromosomenanomalie beim Kind sprechen zu können.
Was wird denn bei der erstgenannten Variante, also dem Ersttrimestertest, genau gemacht?
Prof. Surbek: Bei der Ultraschalluntersuchung misst man anhand des Ultraschallbildes die Breite der Nackenfalte des Fetus. Eine Ultraschall-Untersuchung wird in jedem Falle empfohlen, unabhängig von der Entscheidung, einen Ersttrimestertest durchzuführen. Bei dieser Ultraschalluntersuchung kann nämlich auch der Geburtstermin bestätigt werden und eine Zwillingsschwangerschaft kann festgestellt werden. Zudem können die Extremitäten und die wichtigsten Organe auch schon kontrolliert werden. Der Ersttrimester-Ultraschall wird also unabhängig vom Entscheid der Frau für oder gegen eine Pränataldiagnostik empfohlen. Für den Ersttrimestertest ist dann noch eine Blutuntersuchung notwendig. Mit diesen Resultaten lässt sich anhand eines Algorithmus das Risiko für eine Chromosomenanomalie berechnen. Die Sicherheit, dass diese Risikoabschätzung richtig liegt, beträgt aber lediglich 80-90% und bei 5% gibt der Test fälschlicherweise ein hohes Risiko an.
Was geschieht genau bei der Fruchtwasser-Punktion, respektive der Plazenta-Punktion?
Prof. Surbek: Das ist ein kurzer Eingriff, bei dem eine Nadel durch die Bauchdecke der Frau entweder in die Plazenta oder in das Fruchtwasser eingeführt wird und dann ein paar Zellen davon entnommen werden. Diese können anschliessend im Genetiklabor auf Chromosomenstörungen untersucht werden. In seltenen Fällen (0.5% der Eingriffe) kann es zu Komplikationen kommen, bei denen eine Fehlgeburt das Ergebnis sein kann. Der Vorteil dieses Tests ist, dass er eine sichere Diagnose gibt, ob die Chromosomen normal sind oder nicht.
Was sind die Vor- und Nachteile des Bluttests NIPT?
Prof. Surbek: Der grosse Vorteil ist, dass er eine hohe Genauigkeit und Aussagekraft und keine Risiken für die Schwangerschaft hat und deshalb in vielen Fällen auf die risikobehaftete Fruchtwasser- oder Plazentapunktion verzichtet werden kann. Man kann mit diesem Test in vielen Fällen ohne Risiko für das Kind nachweisen, dass mit sehr grosser Sicherheit keine Chromosomenanomalie vorliegt. Der NIPT ist damit viel genauer als ein Ersttrimestertest. Aber es gibt natürlich auch Nachteile bei dieser neuen Methode. Sie ist beispielsweise vor allem bei Trisomie 21 sehr sicher; bei Trisomie 13 und 18 ist die Entdeckungsrate etwas weniger gut. Ein weiterer Nachteil sind die Kosten. Die Krankenkassen übernehmen diese nämlich (im Gegensatz zum Ersttrimestertest) nur dann, wenn zuvor ein Ersttrimestertest gemacht wurde und dabei das Risiko für Trisomie 21 grösser ist als 1:1000. Andernfalls muss man die Kosten von rund 500 Franken für den neuen Bluttest selber bezahlen.
Empfinden Sie diese Grenze der Krankenkassen als sinnvoll oder willkürlich?
Prof. Surbek: Ich glaube, man muss berücksichtigen, dass diese Tests relativ neu sind. Der Entscheid, den das Bundesamt für Gesundheit gefällt hat, ist aus meiner Sicht für die Übergangsphase gut. Aber es ist nur eine Zwischenlösung, das ist im Gesetz auch so verankert. Ich gehe davon aus, dass der Ersttrimestertest langfristig sowieso durch den neuen Bluttest NIPT ersetzt wird, denn dieser ist einfach besser und viel genauer. Zudem wird der Preis der neuen Bluttests weiter sinken. Was man mit Sicherheit sagen kann: Die Schweiz ist bezüglich der Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und deren Kostenübernahme durch die Krankenkasse weltweit eines der fortschrittlichsten Länder.
Auf welche anderen Entwicklungen in der Pränataldiagnostik darf oder muss man sich in den nächsten Jahren noch gefasst machen?
Prof. Surbek: Die technischen Möglichkeiten der neuen Bluttests entwickeln sich extrem schnell. Ich könnte mir vorstellen, dass die Bereiche, in denen der neue Test momentan noch nicht so gut ist, also bei Chromosomenteilbrüchen, in einigen Jahren auch mit einer hohen Sicherheit getestet werden kann. Und was natürlich auch dazukommen wird, sind die genetischen Anomalien. Also dort, wo das Problem nicht an einem ganzen Chromosom oder dessen Teilen liegt, sondern in einem einzelnen Gen (Einzelgenerkrankungen). Es ist schon heute möglich, mittels "whole exome sequencing", also der Sequenzierung des gesamten funktionellen Genoms, sämtliche relevante Gene des Fetus zu untersuchen. Dazu braucht es heute eine Chorionzottenbiopsie oder Fruchtwasserpunktion. Aber auch dies wird in Zukunft im mütterlichen Blut machbar sein, ohne Risiko für das Kind.
Was sind hierbei die Herausforderungen?
Prof. Surbek: Die grösste Herausforderung für die schwangeren Frauen ist, dass immer mehr an pränataler Diagnostik möglich wird und sie deshalb Entscheidungen treffen müssen, die teilweise schwierig sein können. Einerseits die Frage, was man überhaupt alles wissen will. Und anderseits die Frage, was dann die Konsequenzen sind, also was man macht, wenn das Resultat eben negativ oder positiv ist. Oder Fragen, die aufkommen, wenn man in Zukunft das ungeborene Kind auf Krankheiten testen kann, welche noch nicht bei der Geburt auftreten, sondern sich erst später im Erwachsenenalter entwickeln werden.
Sind die Ärzte auch gefordert im Umgang mit dieser Entwicklung?
Prof. Surbek: Sehr! Von den Ärzten verlangen die neuen Tests einiges mehr an Wissen im Bereich Genetik. Da ist es wichtig, dass sich die Gynäkologen und Gynäkologinnen genügend fortbilden. Man muss wissen, welche neuen Tests es gibt, wie deren Ergebnisse beurteilt werden und was die Bedeutung für die Frau und ihr Kind ist, denn dies ist Voraussetzung für die korrekte Beratung. Trisomie 21 ist beispielsweise noch eine Krankheit, die man kennt. Sobald man aber auch andere Anomalien testen kann, muss die Gynäkologin auch sicher sein, dass sie so viel über die Krankheit weiss, um die Frau auch korrekt beraten zu können. Je mehr Möglichkeiten die Tests bieten, desto komplexer wird es und desto mehr muss ein Gynäkologe auch auf andere Spezialisten zurückgreifen, um eine kompetente Beratung bieten zu können. Hierbei sind die Genetiker gefordert.
Welche Philosophie sollte ein Arzt bei der Beratung von Schwangeren im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik verfolgen?
Prof. Surbek: Es gibt eine allgemein anerkannte und wichtige ethische Regel für die Beratung bei der Pränataldiagnostik: Ein Arzt sollte objektiv die Möglichkeiten und deren Vor- und Nachteile erörtern, dabei aber nicht-direktiv beraten. Das heisst, man darf eine schwangere Frau nicht bereits in die eine oder andere Richtung beraten, sondern man muss ihr die Wissensgrundlage geben, damit sie eine freie und autonome Entscheidung fällen kann. Die Frau sollte die für sie persönlich beste Entscheidung selbst treffen und sich nicht in eine Richtung gedrängt fühlen. Der zweite wichtige Grundsatz ist das Recht auf Nichtwissen, d.h. das Recht der Frau, frei zu entscheiden, eben keine Pränataldiagnostik machen zu lassen.
Der Grundsatz ist also klar, aber wie sieht das in der Praxis aus? Welchen Arten von Druck sind die Frauen ausgeliefert bezüglich der Frage, ob sie testen oder eben nicht testen lassen sollen?
Prof. Surbek: Ich habe den Eindruck, dass es schon gewisse Unterschiede in der Ausführlichkeit der Beratung der schwangeren Frauen gibt, aber ich bin auch überzeugt, dass der Grundsatz der nicht-direktiven Beratung in der Schweiz gut eingehalten wird. Es ist aber schon so, dass unter Umständen ein Druck im Umfeld der Frau existiert, also von Verwandten, Freunden, Bekannten und so weiter. Dieser Druck hat sich aber gemäss unserer Erfahrung mit dem neuen Test nicht verändert. Im Gegenteil, ich empfinde es so, dass die Möglichkeit des neuen Tests bei einem hohen Risiko eher den Druck von den Schwangeren weg nimmt, da sie sich seltener mit der Frage auseinandersetzen müssen, einen invasiven Test (Punktion) zu machen und damit ihr Kind zu gefährden.
Der Nicht-Invasive PränataleTest (NIPT) existiert seit 2012. Wird seitdem vermehrt getestet?
Prof. Surbek: Ja, die neuen Tests haben seit der Einführung eine starke Zunahme erlebt. Gleichzeitig nahm die Zahl der durchgeführten invasiven Tests (Punktionen) stark ab.
Nehmen denn auch die Schwangerschaftsabbrüche zu?
Prof. Surbek: Die Antwort ist nein. Man muss wissen, dass es in der Schweiz pro Jahr rund 10‘000 – 11‘000 Abbrüche gibt bei etwa 85‘000 Geburten jährlich, das ist eine der tiefsten Raten von Schwangerschaftsabbrüchen in Europa. Von diesen Abbrüchen sind nur ganz, ganz wenige aufgrund von Chromosomenanomalien; die allermeisten werden rein auf Wunsch der schwangeren Frau durchgeführt, weil sie sich in einer psychischen Notlage befindet. Bei den Chromosomenanomalien sieht man noch keinen wesentlichen Unterschied in der Anzahl der Abbrüche. Ich habe zudem den Eindruck, dass es immer noch gleich viele Frauen gibt wie früher, die es gar nicht wissen möchten und somit auch keine Tests durchführen.
Was raten Sie einer Frau, die schwanger ist und sich noch gar nicht mit dem Thema befasst hat? Wie, wann und wo werden die Frauen über die vielen Test-Möglichkeiten informiert?
Prof. Surbek: Grundsätzlich soll die Frau schon möglichst früh mit ihrer Gynäkologin über die Pränataldiagnostik sprechen, bei der ersten oder zweiten Kontrolle in der Schwangerschaft. In der 8.-10. Schwangerschaftswoche führt man in der Regel ein erstes Gespräch über die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, sodass die Frau auch Zeit hat, sich damit zu befassen und das Thema in aller Ruhe mit dem Mann oder anderen Vertrauenspersonen zu besprechen. In der 12. Schwangerschaftswoche sollte sich die Frau dann entscheiden, was sie genau möchte. Optimal wäre es natürlich, wenn sich die Frau bereits vor der Schwangerschaft (wenn sie eine plant) mit dem Thema Pränataldiagnostik befasst hat. Dann gibt es auch keinen Zeitdruck aufgrund der Zeitpunkte für gewisse Tests. Da kann man das Gespräch mit der Gynäkologin suchen oder sich anderenorts informieren.
Wie stellt man in der Schweiz sicher, dass die Gynäkologen und Gynäkologinnen über die Kompetenzen verfügen, um die Frauen über diese neuen Tests in einer angemessenen Form aufzuklären?
Prof. Surbek: Es gibt ja für den Ersttrimestertest schon lange klare Anforderungen an die durchführenden Ärzte und Ärztinnen. Dazu gehört eine Ausbildung in der Ultraschalltechnik, aber auch die Kommunikation in der Pränataldiagnostik wird dort behandelt und geübt. Das sind also Fortbildungskurse und in die werden jetzt auch die neuen Tests für Pränataldiagnostik integriert.
Wie und wo werden Frauen unterstützt, die im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik vor sehr schwierigen Fragen stehen?
Prof. Surbek: In erster Linie natürlich von ihrem behandelnden Arzt. Teilweise möchten die Frauen aber auch eine ärztliche Zweitmeinung. Wir im Inselspital bieten dies an und das wird auch häufig in Anspruch genommen. Und dann gibt es eine kantonale unabhängige Beratungsstelle für Familienplanung, die Frauen bei schwierigen Fragen zu verschiedenen Themen unterstützt.