"Gebären ist Körperarbeit"
Interview mit Susanne Gysi vom Berufsverband für Gesundheit und Bewegung Schweiz
swissmom: Der Fachbereich BGB BirthCare® des Berufsverbands für Gesundheit und Bewegung Schweiz bietet eine ganze Palette von Kursen für Schwangere und Mütter an. Welche sind dies?
Susanne Gysi: Die drei Hauptbereiche sind Schwangerschaftsgymnastik, Geburtsvorbereitung und Rückbildung. Je nach Weiterbildung der Kursleiterin gibt es weitere Angebote wie Yoga für Schwangere, Geburtsvorbereitung im Wasser, Babymassage, Tragetuchkurse, etc. Dann gibt es noch Kursleiterinnen, die ein bestimmtes Spezialgebiet haben, zum Beispiel Hypnobirthing oder Stillberatung. Schwangerschaftsgymnastik, Geburtsvorbereitung und Rückbildung bilden den Kern und darum herum gibt es viele Angebote, die personenabhängig sind. Der Berufsverband für Gesundheit und Bewegung ist ein breites Dach, unter dem viele verschiedene Angebote Platz haben.
Susanne Gysi ist Bewegungspädagogin mit einer Zusatzausbildung in Geburtsvorbereitung, Schwangerschaftsgymnastik und Rückbildung. Sie leitet seit vielen Jahren Kurse für Frauen und Paare. Als Erwachsenenbildnerin mit Eidgenössischem Fachausweis ist sie für den Berufsverband für Gesundheit und Bewegung (BGB Schweiz) sowie für den Schweizerischen Hebammenverband als Dozentin tätig. Susanne Gysi ist Mutter von vier Kindern.
swissmom: Kommen wir zuerst auf die Geburtsvorbereitung zu sprechen. Warum sollten Schwangere einen solchen Kurs besuchen?
Susanne Gysi: Ich finde es in erster Linie ganz wichtig, dass eine Frau sich Zeit nimmt. Zuerst einmal Zeit für sich selber, dann auch Zeit für die Schwangerschaft und das Baby. Wichtig ist auch, dass sie sich auseinandersetzt mit den Inhalten zum Thema Schwangerschaft und Geburt. Dazu kommt eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit sich selber. Eine Geburt ist keine kopflastige Sache. Es braucht Informationen über die Vorgänge, aber es braucht auch Persönlichkeits- und Körperarbeit. Dies sind zwei wichtige Aspekte, die im Fachbereich BGB BirthCare® einen grossen Raum einnehmen. Schliesslich bietet ein Geburtsvorbereitungskurs auch Austausch mit Gleichgesinnten und die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen.
swissmom: Welche Inhalte vermittelt ein solcher Kurs? Welches sind die Kernelemente, die jeder Geburtsvorbereitungskurs enthalten sollte?
Susanne Gysi: In einem Geburtsvorbereitungskurs erwartet man zuerst einmal Informationen zu den Themen Schwangerschaft und Geburt und danach Raum für die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Informationen. Dies kann ganz unterschiedlich geschehen, zum Beispiel durch geburtsvorbereitende Körperübungen, Atemübungen, Entspannungsübungen und auch persönliche Gespräche. Information, Körperarbeit und persönliche Auseinandersetzung sind die Essenz eines Geburtsvorbereitungskurses.
swissmom: Wann ist der richtige Zeitpunkt, einen Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen?
Susanne Gysi: Ein Einstieg zwischen der 20. und 25. Schwangerschaftswoche ist ideal, wenn sich der Kurs über eine längere Zeit erstreckt. So kommt man nicht unter Stress, denn man hat genügend Zeit, sich auf die Geburt vorzubereiten. Kürzere Kurse und Wochenendkurse kann man auch etwas später anfangen. Ich empfehle, dass das Kursende spätestens in der 35. Schwangerschaftswoche liegen sollte, damit die Frau nicht unter Zeitdruck gerät. Man muss auch damit rechnen, dass ein Kurs ausgebucht sein könnte. Darum ist es gut, sich schon früh mit der Kursauswahl zu befassen, damit man auch wirklich den Wunschkurs besuchen kann.
swissmom: Es sind, wie bereits erwähnt, ganz unterschiedliche Kurse im Angebot, zum Beispiel mentale Geburtsvorbereitung oder Geburtsvorbereitung im Wasser. Wie findet eine Schwangere da den passenden Kurs? Nach welchen Kriterien soll sie entscheiden?
Susanne Gysi: Zuvorderst stehen die persönlichen Vorlieben. Wenn eine Frau sich gerne im Wasser aufhält, warum nicht einen Kurs im Wasser besuchen? Hilfreich sind auch Empfehlungen durch Bekannte, Hebammen oder Gynäkologen. Wenn es eine Website gibt, kann man sich auch dort über die Kursleitung und den Kurs informieren. Gerade für Erstgebärende kann es schwierig sein, herauszufinden, was am besten passt, darum finde ich Empfehlungen von Mund zu Mund wichtig. So erfährt die Schwangere, wie es in dem Kurs, für den sie sich interessiert, wirklich ist. Ich kann nicht sagen, Schwangerschaftsgymnastik sei besser, oder etwas anderes sei besonders empfehlenswert, denn was einer Frau zusagt, ist sehr individuell.
swissmom: Welche Vorteile hat ein Kurs, der sich über mehrere Wochen erstreckt?
Susanne Gysi: Der ganz grosse Vorteil ist, dass eine Frau in einem solchen Kurs begleitet werden kann. Wenn sie über mehrere Wochen kommt, kann man ein Thema wirklich vertiefen und Fragen, die auftauchen, mehrmals aufgreifen. Es wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, wodurch die Persönlichkeitsarbeit besser angegangen werden kann. Ein anderer Vorteil ist, dass man die Atemtechniken wirklich einüben kann und nicht nur Informationen dazu vermittelt bekommt. Entspannungstechniken sind keine Kopfsache, sondern brauchen Zeit. Je nach Vorkenntnissen braucht es mehr Zeit, dies so einzuüben, dass die Frau das Gelernte während der Geburt auch abrufen kann. Ich bin sehr überzeugt davon, dass es nicht reicht, etwas nur gehört zu haben. Die Beziehungen unter den Kursteilnehmerinnen sind in einem langen Kurs auch vertiefter, weil die Frauen einander regelmässig sehen. Durch den Besuch eines solchen Kurses hat die Schwangere automatisch ihre wöchentlichen Inseln, denn unter der Woche hat man oft keine Zeit, sich der Schwangerschaft zu widmen.
swissmom: Welche Vorteile hat ein Wochenendkurs?
Susanne Gysi: Er hat den Vorteil, dass er kompakt ist und sich im Terminkalender unterbringen lässt. Bei einem Wochenendkurs ist der Partner in der Regel während der ganzen Zeit dabei, in einem längeren Kurs nur partiell. Im Idealfall wird das, was im Kurs gelernt wird, auch mit nach Hause genommen und weiter verarbeitet.
swissmom: Welche Rolle kommt im Geburtsvorbereitungskurs dem werdenden Vater zu?
Susanne Gysi: Die Hauptrolle des Vaters ist die Vorbereitung darauf, dass er während der Geburt eine Aufgabe als Unterstützer haben wird. Er kann ja nicht gebären und er soll darauf vorbereitet sein, dass dies okay ist. Er soll auch darauf vorbereitet sein, dass die Frau in dem Moment den Lead hat und entscheidet, was sie braucht. Hinzu kommt auch die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Rolle, nämlich dass eine Geburt auf ihn zukommt und dass er Vater wird. Dies geschieht bei vielen Männern im Alltag nicht.
swissmom: Manche Frauen haben das Gefühl, der Partner könnte sich besser auf die Geburt vorbereiten, wenn er bei jeder Kurseinheit dabei wäre. Warum sind Männer in vielen Geburtsvorbereitungskurs nur partiell dabei?
Susanne Gysi: Ich arbeite ganz bewusst alleine mit den Frauen, denn gebären muss die Frau. So kann man mehr in die Tiefe gehen. Ich bin überzeugt, dass die Frauen entspannter atmen, wenn sie ohne den Partner im Kurs sind. Der Kurs, bei dem der Mann ganz entspannt mit der Frau atmet und sich Zeit nimmt, ist eine Idealvorstellung. Mir ist es lieber, die Männer sind nur punktuell, dann aber auch richtig dabei. Wenn sie das Gefühl haben, sie müssten bei allem dabei sein, kommen sie oft gar nicht. Wenn die Frau ganz fest bei sich ist, wenn sie weiss, was sie will und was sie braucht und sich voll auf das Geschehen einlässt, kommt der Mann auch mit. Ist sie unsicher, ist dies viel weniger der Fall.
swissmom: Gibt es auch Angebote, die werdende Mütter in einer sogenannten Risikoschwangerschaft auf die Geburt vorbereiten?
Susanne Gysi: In diesem Fall empfehle ich Privatunterricht. Eine Kursleiterin kommt zu der Schwangeren nach Hause und schaut, was möglich ist. Der Kurs beinhaltet Entspannungs- und Atemübungen sowie Informationen. Turnen und Körperübungen liegen aber meistens nicht drin. In der Regel ist der Partner während des Kurses dabei. Ein solcher Kurs dauert bei mir zwei Stunden und kostet etwa gleich viel wie ein längerer Kurs in der Gruppe. Diese zwei Stunden beinhalten aber auch sehr viel und man kann viele Themen abdecken.
swissmom: Frauen, die bereits Kinder haben, stellen sich oft die Frage, ob es sich in einer weiteren Schwangerschaft lohnt, erneut einen Kurs zu besuchen. Was würden Sie raten?
Susanne Gysi: Ja! Mit drei Ausrufezeichen! Ich würde dies in jedem Fall empfehlen. Es geht darum, sich für jedes Kind ganz bewusst Zeit zu nehmen. Dies gerade auch, wenn man mitten im Kinderalltag steht, um sich wirklich Zeit für das weitere Kind zu nehmen. Hier sehe ich auch die Gelegenheit, mal einen neuen Kurs auszuprobieren, oder einen Wochenendkurs, der auf Mehrgebärende zugeschnitten ist, zu besuchen. Auch Schwangerschaftsgymnastik ist in diesem Fall sehr empfehlenswert, da sie zum eigenen Wohlbefinden beiträgt. Einen reinen Informationskurs hingegen würde ich einer Frau, die schon Kinder hat, nicht empfehlen.
swissmom: Zum Fachbereich BGB BirthCare® gehören auch Kurse in Schwangerschaftsgymnastik. Wo liegt der Unterschied zur Geburtsvorbereitung?
Susanne Gysi: Bei der Schwangerschaftsgymnastik liegt der Fokus auf der Bewegung. Danach hören für mich die Unterschiede schon wieder auf. Schwangerschaftsgymnastik oder auch Yoga für Schwangere haben geburtsvorbereitende Elemente im Kurs integriert. Schon für Erstgebärende kann dies absolut ausreichend sein, um sich auf die Geburt vorzubereiten, der Besuch von zwei Angeboten ist nicht nötig. Der Kurs, den ich zum Beispiel anbiete, heisst "Geburtsvorbereitung und Schwangerschaftsgymnastik". Die Gymnastik ist mein Medium, um die Inhalte zu transportieren. Bewegung, Atmung und Entspannung sind die drei Elemente, die vermittelt werden.
swissmom: Warum ist es empfehlenswert, nach der Geburt einen Rückbildungskurs zu besuchen?
Susanne Gysi: Ich empfehle allen Frauen, nach jeder Schwangerschaft einen Rückbildungskurs zu besuchen. Die Frauen sind neun Monate lang schwanger, der Körper war neun Monate lang den Belastungen der Schwangerschaft ausgesetzt, der Beckenboden und die Rumpfmuskulatur waren stark belastet. Ein Rückbildungskurs ist wichtig für die aktuelle Gesundheit, aber auch längerfristig. Er bietet eine gute Gelegenheit, den Körper noch einmal neu kennen zu lernen, sorgsam mit ihm umzugehen und so auch eine Basis zu legen für ein neues Körpergefühl. Ich finde es enorm wichtig, dass man sich hier Zeit nimmt, egal, wie viele Kinder man zu Hause hat. Sich einmal in der Woche bewusst Zeit zu nehmen, sollte jede Frau sich wert sein. Das Ganze hat auch wieder einen sozialen Aspekt, denn in einem solchen Kurs trifft man Gleichgesinnte.
swissmom: Sie haben erwähnt, dass ein Rückbildungskurs auch längerfristig für die Gesundheit wichtig ist. Inwiefern ist das so?
Susanne Gysi: Inkontinenz, Senkung der Gebärmutter und Rückenbeschwerden sind Themen, die bei vielen Frauen früher oder später aktuell werden, wenn sie nicht aktiv etwas dagegen unternehmen. Mit der Rückbildung hat man bessere Chancen, in dieser Hinsicht länger gesund zu bleiben.
swissmom: Gibt es auch bei der Rückbildung unterschiedliche Angebote, aus denen die Frauen wählen können?
Susanne Gysi: Auch hier gibt es sehr viele verschiedene Angebote: Klassische Rückbildungsgymnastik-Kurse mit oder ohne Baby, Kurse bei Hebammen, bei Physio- oder Bewegungstherapeuten, etc. Hier gilt es wieder, zu schauen, wer den Kurs leitet, welche Ausbildung die Person hat und welche Erfahrungen andere mit dem Kurs gemacht haben. Im Fachbereich BGB BirthCare® bieten viele Kursleiterinnen sowohl Geburtsvorbereitung als auch Rückbildung an. Besucht man einen Rückbildungskurs am gleichen Ort wie schon die Geburtsvorbereitung, ist die Begleitung noch länger und noch persönlicher.
swissmom: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um mit der Rückbildung zu beginnen?
Susanne Gysi: Grundsätzlich lautet die Empfehlung, sechs bis acht Wochen nach der Geburt zu beginnen, bei einem Kaiserschnitt eventuell etwas später. Wenn eine Frau sich nach dieser Zeit aber noch nicht bereit fühlt, soll sie einfach warten, bis sie bereit ist. Für Rückbildung ist es nie zu spät. Besser, man beginnt spät, als gar nie. Dies gilt gerade auch für Frauen, denen beim ersten Kind das Wasser bis zum Hals steht. Die machen den Kurs dann halt manchmal erst beim zweiten Kind. Es ist wichtig, sich sehr früh anzumelden, am besten schon während der Schwangerschaft, denn Rückbildungskurse sind oft schon auf Monate hinaus ausgebucht. Darum sollte man sich frühzeitig nach einem Angebot umsehen und sich anmelden, allerspätestens dann, wenn das Baby da ist.
swissmom: Eine letzte Frage noch: Warum ist Bewegung in der Schwangerschaft so wichtig?
Susanne Gysi: Frauen sollten wissen, dass Bewegung in der Schwangerschaft dabei hilft, viele Schwangerschaftsbeschwerden zu lindern oder sogar ganz vorzubeugen. Gebären ist Körperarbeit und darum muss man lernen, mit dem Körper zu arbeiten. Gut angeleitetes Beckenbodentraining in der Schwangerschaft kann sich ebenfalls positiv auf die Geburt auswirken. Dies bringt auch den Vorteil mit sich, dass die Rückbildung einfacher geht, weil die Frau ihren Körper bereits kennt. Bewegung ist ausserdem das einzige zur Zeit bekannte Mittel, das eine Rektusdiastase verhindern kann oder wenigstens dazu beiträgt, dass diese weniger stark ausfällt.