Big Mommy is watching you

Schwangere liegt auf dem Sofa mit Tablet
©
Shutterstock

Neulich habe ich mich im App-Store ein wenig nach Apps für Eltern umgeschaut. Erstaunlich, was es da alles gibt, um uns gewöhnlichen, vergesslichen und mit Fehlern behafteten Eltern zu Übermüttern und -vätern zu machen, denen auch ganz bestimmt nichts entgeht.

Fast hätte ich geschrieben "denen auch ganz bestimmt kein Sch... entgeht" und damit wären wir auch gleich beim ersten Thema. Da gibt es nämlich diese App, mit der sich jede gewechselte Windel inklusive Angaben zum Inhalt festhalten lässt. Ich muss doch bitten! Wer von uns möchte - mal abgesehen von den Zeiten in denen es wegen akuter Darmprobleme unerlässlich ist - länger als nötig an den Inhalt einer Windel denken? Die meisten von uns sollten geistig auch noch in der Lage sein, sich mit knapper Not zu erinnern, wann das Baby zum letzten Mal eine frische Windel bekommen hat. Damit rechnen App-Entwickler offenbar nicht und darum gibt es auch eine App, die uns dazu ermahnt, das Kind auf die Toilette zu schicken. Gerade so, als würden wir Eltern uns in Zeiten des Töpfchen-Trainings noch mit irgend etwas anderem befassen als den Fragen "Warst du schon? Oder musst du noch mal?" und brauchten deshalb eine Gedankenstütze. 

Dann gibt es natürlich all diese tollen Apps, mit denen sich jeder Entwicklungsschritt in Schrift, Bild, Ton und Film festhalten lässt. Da darf sich Mama den ganzen Tag ungeniert ihrem Smartphone widmen, denn sie tut das ja nur, um die heiligen Momente der Kindheit für die Ewigkeit festzuhalten. Beim Kinderarzt  und in Mütterrunden hat sie so allzeit den Beweis zur Hand, dass ihr Kind ein kleines Genie ist und wenn sie Jahre später beim Schulpsychologen gefragt wird, in welchem Alter ihr Sohn denn laufen gelernt habe, zückt sie das Smartphone und sagt: "Seine ersten Schritte hat er am 19. September 2012 nachmittags um halb drei getan. Da war er genau vierzehn Monate, zwei Tage, vierzehn Stunden und zweiunddreissig Minuten alt. Möchten Sie den Clip sehen, den ich aufgenommen habe?"

Ganz grossartig finde ich auch die "Love You Do"-App. Die gibt Eltern jeden Tag eine Idee, wie sie einen speziellen Moment mit ihrem Kind erleben können. Also zum Beispiel: "Leg dich zu deinem schlafenden Kind ins Bett und freue dich an seinem überraschten Gesicht, wenn es aufwacht." Oder: "Erzähle deinem Kind von der Zeit, als es noch klein war." Zum Glück gibt es kreative Menschen, die uns unterstützend zur Seite stehen. Von selbst kämen wir Durchschnittseltern ja nie auf solche Ideen.

Aber natürlich ist im Leben mit Kindern nicht alles nur "Love You Do" und darum gibt es eine riesige Auswahl an Apps, die einem dabei helfen, die kleinen Rotznasen in die Schranken zu weisen. Man kann zum Beispiel bei mehreren Kindern gleichzeitig überwachen, wer gerade auf sein Zimmer geschickt worden ist, aus welchem Grund man das Kind dorthin verbannt hat und wie lange er oder sie dort noch bleiben muss. Mit "Santa's Naughty or Nice Scan-O-Matic" lässt sich vor Weihnachten wunderbar Druck aufbauen, damit die lieben Kleinen auch wirklich bis im letzten Moment zittern müssen, ob es für ein Geschenk reicht, oder ob sie dieses Jahr leer ausgehen müssen. Und natürlich gibt es auch ausgeklügelte Systeme, wie man die Höhe des Taschengeldes von der Begeisterung bei der Erledigung der "Ämtli" abhängig macht. Sollte ein Kind sich beklagen, sein Taschengeld sei diesen Monat etwas gar mager ausgefallen, schieben wir die Schuld einfach dem Algorithmus in die Schuhe. 

Ja, und dann haben wir natürlich endlose Möglichkeiten, die Lernerfolge unseres Nachwuchses zu kontrollieren. Dank zahlreicher Apps müssen wir nie rätseln, ob unsere Kinder in Lesen, Mathe und Sport mit Gleichaltrigen mithalten können. Das gibt bestimmt ganz lustige Elterngespräche, wenn der Lehrer die Meinung der App nicht teilt. Und später gibt's dann vielleicht Zoff mit dem Teenager, weil er partout nicht auf der Karriereschiene fahren will, die wir mithilfe von "Teen Success" festgelegt haben. 

Gut, wir hier in der Schweiz schöpfen noch längst nicht alle Möglichkeiten aus, die es in Sachen Kinderüberwachung gibt. Wo ist die Krippe, die ein System eingerichtet hat, mit dem wir in Echtzeit mitkriegen, was unsere lieben Kleinen gerade tun? Warum schickt man uns keine Nachrichten wie "Fabian hat heute 45 Minuten lang geweint, doch seit seinem kleinen Sturz aus dem Hochstuhl schläft er friedlich" in die Sitzung? Weshalb können uns die Betreuenden beim Abholen der Kinder keinen lückenlosen Rapport vorlegen, der uns über jedes Görpsli informiert? Meinen die, wir würden uns nicht für unsere Kinder interessieren, bloss weil wir uns hin und wieder mit ein bisschen Arbeit die Zeit vertreiben? 

Noch schlimmer wird es, wenn die Kinder in der Schule sind. Nur wer sich eine überteuerte Privatschule leisten kann, bekommt eine App, mit der sich überwachen lässt, ob das Kind wirklich in der Schule ist, ob es dort gesund isst, ob es sich zur richtigen Zeit im richtigen Schulzimmer aufhält, welche Hausaufgaben es hat und bis wann diese zu erledigen sind. Wie soll man da seine Kinder allzeit im Griff haben, wenn man uns all diese Informationen verweigert?  

Nun, solange das hierzulande nicht Standard ist, müssen wir uns eben damit begnügen, zu überwachen, ob der Babysitter alles richtig macht, wenn wir uns mal einen kinderfreien Abend gönnen. Auch dafür gibt's ein App. Nicht dass wir am Ende noch auf die Idee kämen, beim romantischen Kerzenlicht-Dinner unsere Kinder aus den Augen zu lassen.  

Letzte Aktualisierung: 04.07.2016, TV