Entspannt euch, liebe Eltern
Wenn diejenigen, die heute taufrisch und niedlich sind, einmal gross und erwachsen sein werden, dann unterhalten sie sich mit Sicherheit darüber, wie das war, damals in grauer Vorzeit, als sie noch Kinder waren. Was sie dann wohl sagen werden?
Nun, so genau kann man das natürlich nicht wissen, aber mit ziemlicher Sicherheit werden sie nicht darüber reden, wie toll Mama trotz drei Schwangerschaften im Bikini ausgesehen hat. Ihre nahezu übermenschliche Beherrschung beim Dessertbuffet wird vermutlich auch kein Thema sein, ebenso wenig wie die Rumpfbeugen, die Papa jeden Tag im Morgengrauen zur Erhaltung seines Waschbrettbauches gemacht hat.
Ob sich ihre Gespräche um die blitzblanken Fensterscheiben, die Fussböden, von denen man hätte essen können und den stets akkurat gekürzten Rasen drehen werden? Wohl kaum. Es sei denn, sie kämen darauf zu sprechen, was für ein Drama das jeweils war, wenn man mit schokoladeverschmierten Fingern einen frisch polierten Türgriff anfasste.
Natürlich wird das Essen ein Thema sein. Allerdings nicht der perfekte Siebengänger, den die Eltern servierten, als Mamas Arbeitskollegen zu Besuch kamen, sondern die Fotzelschnitten, die es an jenem regnerischen Sonntag, als sämtliche Vorräte aufgebraucht waren, zum Abendessen gab. Oder die Fleischbällchen aus dem Möbelhaus, die immer dann auf den Tisch kamen, wenn Mama und Papa nach einem langen Arbeitstag nicht die geringste Lust zum Kochen hatten.
Was sie über die Arbeit ihrer Eltern sagen werden? Nun, bestimmt wird ein Hauch von Bewunderung mitschwingen, wenn sie erzählen, wie fleissig Mama und Papa waren. Vielleicht aber auch ein Hauch von Kritik. Eine lange Gutenachtgeschichte hätte ihnen mehr bedeutet als das sündhaft teure Auto, werden sie möglicherweise sagen. Oder die drei Tage in der bescheidenen Berghütte seien hundertmal schöner gewesen als die Ferien im Luxusresort, wo man sich zum Abendessen immer so fein anziehen musste und auf dem Flur nicht Verstecken spielen durfte.
Die Moralpredigt zum Thema "Streit und Versöhnung" nach der Keilerei mit dem Bruder werden sie mit Sicherheit vergessen haben. Nicht aber den ganz und gar verkorksten Tag, an dem Mama ganz schrecklich unfair war und deshalb abends noch einmal ins Kinderzimmer kam, um sich für ihre harten Worte zu entschuldigen.
Natürlich werden sie es zu schätzen wissen, dass da immer jemand war, der auf sie aufgepasst hat. Die Geschichte, die sie immer und immer wieder zum Besten geben werden, wird aber von dem Nachmittag handeln, an dem sie der elterlichen Aufsicht entwischt sind, um im Wald eine Hütte zu bauen, was dann aber irgendwie ganz furchtbar schief ging, weshalb der Tag mit einem gebrochenen Arm auf der Notfallstation endete. Dass die gefürchtete Schimpftirade ausblieb und sich auf dem Gesicht der Eltern nur Erleichterung über den glimpflichen Ausgang des Abenteuers zeigte, werden sie auch dann noch mit einem gewissen Erstaunen erzählen.
Ob es wirklich so sein wird? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch gross, dass sie dereinst nicht mit Tränen der Rührung sagen werden: "Meine Eltern waren wunderbar, sie waren immer so perfekt."