"Verkehrte Welt" - Werdende Väter und Sexualität
Einige, angebliche medizinische Gründe, die gegen Sex in der Schwangerschaft sprechen, beruhen auf Mythen. Sie dienen aber womöglich dem Mann als "Ausrede", denn in der Schwangerschaft ist die Welt manchmal ein wenig verdreht: Sie will mehr als sonst, er weniger. Darauf wies Dr. Babett Ramsauer vom Vivantes Klinikum Berlin Neukölln beim 25. Deutschen Kongress für Perinatale Medizin 2011 hin.
Die sexuelle Welt ist auf den Kopf gestellt
Schon ein Blick in entsprechende Internetforen bringe Erstaunliches zu Tage, sagte die Frauenärztin. Entgegen der sonst passiveren Rolle, dem im Vergleich zu Männern nicht so häufigen sexuellen Verlangen der Frauen, äussern Schwangere in den Foren ein lustvolles, unersättlich erscheinendes Bedürfnis, das von ihren Männern nicht befriedigt werde. Die Schwangerschaft scheint die sexuelle Welt auf dem Kopf zu stellen.
Frau Dr. Ramsauer hat zahlreiche Paare zu dem Thema befragt. Dabei stellte sich heraus, dass sich Frauen in der Schwangerschaft als attraktiver und anziehender empfinden. Sie scheinen endlich einmal mit ihrer Figur zufrieden zu sein und sich wohl zu fühlen, trotz der Veränderungen ihrer körperlichen Proportionen. Es wird nicht über zu grosse oder zu kleine Brüste, runde Formen und eingeschränkte Beweglichkeit lamentiert, sogar dicke Füsse werden entspannt akzeptiert. Dieses Selbstbewusstsein scheint einen weitreichenden Einfluss auf das sexuelle Verlangen zu haben. Die Frauen fühlen sich anziehend und sind lustvoll. Die medizinische Seite ist dabei sicher nur ein Aspekt der Erklärung: Durch hormonelle Umstellungen entsteht eine vermehrte Lubrikation (Feuchtigkeit in die Scheide), die zu einer gesteigerten Erregbarkeit auch schon vor direktem sexuellen Kontakt führt.
Die Angst der werdenden Väter
Die Rolle des Mannes hingegen ist zunehmend von Angst gesteuert. Werdende Väter reden gerne von Gefahren wie vermeintlich mögliche Verletzungen des Kindes, Auslösen von Blutungen, Verursachung eines Blasensprunges oder Auslösen von Wehentätigkeit durch Sex. Spätestens mit der ersten Wölbung des Babybauches kommt es bei nicht wenigen Männern zu einer vollständigen sexuellen Blockade. Und das zu einem Zeitpunkt, wo eventuelle anatomische Besonderheiten, die eine gewisse Kreativität bei Sexualpraktiken verlangen, überhaupt noch nicht akut sind.
Eigentlich könnte doch dabei jetzt ein anderer Aspekt in den Vordergrund treten: Sexualität nun endlich unbeschwert zu geniessen. Es ist passiert, was vielleicht das Ziel der letzten Monate, oder was zwar nicht gewollt war, aber nun Realität ist – eine Schwangerschaft ist eingetreten. Die Zeit der lästigen Verhütung, des auf der Hut sein, damit "nichts passiert" oder des auf der Hut sein, dass etwas passiert, ist vorbei. Das selbe gilt für Sex nach Kalender und Uhrzeit, getimt nach dem vermuteten Einsprung. Das alles müsste eine Erleichterung sein, spiegelt sich aber im männlichen Verhalten nicht wider.
Mythen entkräften
Aufklärung kann zumindest teilweise weiter helfen. Es gibt keine wissenschaftlichen Studien die belegen, dass Sexualität in der Schwangerschaft einen Schaden verursachen könnte. Mythen lassen sich schnell entkräften:
Im Sperma sind Prostaglandine enthalten, die Frühgeburten auslösen: Die Menge an Prostaglandinen im Sperma ist zu gering, um eine Geburt auszulösen. Frühgeburt durch Sex ist wissenschaftlich nicht belegt.
Durch mechanischen Reiz und Orgasmus der Frau kommt es zu Geburtswehen: Auch diese Theorie ist durch Untersuchungen nicht zu belegen. Weder Penetration noch Petting mit nachfolgendem Orgasmus führt zu Kontraktionen der Gebärmuttermuskulatur und in der Folge zu Wehen.
Durch Sex bekommen Frauen vermehrt Infektionen in der Schwangerschaft: Belegt ist zwar, dass in sozial schwächeren Gesellschaftsschichten Genitalinfektionen grundsätzlich häufiger vorkommen. Der "Ping-Pong-Effekt" beschreibt die wechselseitige Ansteckung der Sexualpartner. In diesen Partnerschaften liegt eine Infektion aber gehäuft bereits bei Eintreten der Schwangerschaft vor. Für eine Neuinfektion in der Schwangerschaft, ausserhalb dieses Risikokollektives, ist die Ursache vielmehr in einer individuellen Veranlagung als in der Ansteckung durch den Partner zu suchen.
Wovon Sex in der Schwangerschaft geprägt wird
Somit sei Sexualität in der Schwangerschaft keine medizinische, sondern eine partnerschaftliche, gesellschaftliche, geschlechtsspezifische und religiöse Frage, sagte Babett Ramsauer.
Hier sei ein Blick in die muslimische Welt interessant. Der Koran schreibt in mehreren Suren über Sexualität und auch über Sexualität in der Schwangerschaft. Sexualverkehr mit ihren schwangeren Frauen ist demnach nicht nur erlaubt, sondern auch die Pflicht der Ehemänner. Eine Befragung der muslimischen Frauen zu diesem Thema ist nur eingeschränkt möglich und kann nicht repräsentativ sein. Aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die "keusche, demütige" muslimische Frau ein befriedigendes Sexualleben vor allem in der Schwangerschaft hat.
Unser westlich orientiertes, kaum noch durch Religion geprägtes Denkschema gerate durcheinander, erklärte die Frauenärztin. Schwangere Frauen bei uns werden von ihren Männern enttäuscht. Zur Rolle von Gynäkologinnen und Gynäkologen gehört es durchaus, ihre Patientinnen zu beraten, wie ihr sexuelles Verlangen gerade in der Schwangerschaft befriedigt wird. Den Männern kann die Angst vor Sexualität in der Schwangerschaft ihrer Frauen durch eine gute Aufklärung genommen werden. Und wo Gynäkologen übereilte Sexverbote bei fast jeglicher Form einer Risikoschwangerschaft aussprechen, spiegelt das meist mehr deren Angst wider als wissenschaftliche Erkenntnisse.