Bryophyllum, Achtsamkeit und Ruhe 

Interview mit Dr. med. Kaspar Jaggi und Dr. med. A. Kuck

Hebamme macht ein CTG
©
iStock

Dr. med. Kaspar Jaggi: Die Anwendung von Bryophyllum in der Frauenheilkunde ist eine sehr spannende komplementärmedizinische Erfolgsgeschichte. Stimmen Sie dem zu, Frau Dr. Kuck?

Dr. med. A. Kuck: Ganz bestimmt! Ich war vor einiger Zeit in Kassel an einer Fortbildung in anthroposophischer Frauenheilkunde. Als die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte auf ihre Erfahrungen zu sprechen kamen, da wurde deutlich, wie viele positive Erfahrungen über die Jahre mit Bryophyllum gesammelt wurden. Da ist ein grosser Schatz vorhanden! Auch Kolleginnen und Kollegen, die noch wenig Kontakt mit der anthroposophischen Medizin hatten, zeigen sich oft sehr beeindruckt und sind motiviert, Arzneimittel wie Bryophyllum zu verschreiben.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Dr. Werner Hassauer, Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, hat Bryophyllum bereits 1970 am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke (D) zur Therapie vorzeitiger Wehen eingeführt. Am Paracelsus-Spital in Richterswil wird die Pflanze zudem seit einigen Jahren erforscht. Ein Glücksfall?

Dr. med. A. Kuck: Sowohl in der Filderklinik bei Stuttgart als auch in Herdecke haben wir gut drei Jahrzehnte Erfahrungen sammeln können, das stimmt. Auch in der Ita-Wegman Klinik und von Frauenärzten, die mit der anthroposophischen Medizin arbeiten, wurde Bryophyllum erfolgreich angewendet. Ganz wichtig für den hervorragenden Ruf dieser Pflanze in der Frauenheilkunde ist ganz bestimmt die intensive begleitende Forschungsarbeit von Dr. Lukas Rist hier am Paracelsus-Spital in Richterswil. Derzeit läuft eine wissenschaftliche Untersuchung an der Frauenklinik des Universitätsspitals Zürich über die Wirksamkeit der Bryophyllum-Kautabletten im Vergleich zu Nifedipin-Tabletten, welche derzeit in der Geburtshilfe angewendet werden, um wehenhemmende Infusionen zu vermeiden.

Zur Person

Dr. med. Angela Kuck

Frau Dr. med. Angela Kuck wurde in München geboren und absolvierte zunächst ein Musikstudium in München und Karlsruhe (Violoncello). Danach Medizinstudium in Bochum und Bonn. Gynäkologische, operative und geburtshilfliche Ausbildung als Assistenzärztin in Köln. 1990 Facharztprüfung, Assistenzärztin, anschliessend 9 Jahre Oberärztin und später Mitglied im leitenden Kollegium der Abteilung für Frauenheilkunde am anthroposophisch orientierten Gemeinschaftskrankenhaus Filderklinik bei Stuttgart. Im Juni 2001 wurde sie Chefärztin der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung am Paracelsus-Spital in Richterswil. Das Spital ist inzwischen geschlossen.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Welche Erfahrungen haben sie in der Klinik mit Bryophyllum gesammelt?

Dr. med. A. Kuck: Während meiner Arbeit an der Filderklinik haben wir im stationären Bereich meist Infusionen benutzt und haben dann nach wenigen Tagen auf orale Verabreichung umgestellt. Bei den ambulanten Behandlungen haben wir Bryophyllum nur oral verabreicht. Die Entscheidung, ob orale Verabreichung oder nicht, hängt natürlich primär von der Intensität der Wehen und vom Muttermundbefund ab.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Bei der Dosierung und Verabreichung taucht oft die Frage auf: Nehme ich besser das 50%-ige Pulver (neu jetzt auch 50%ige Tabletten) oder die 30%-ige Dilution?

Dr. med. A. Kuck: Wir arbeiten hauptsächlich mit den Tabletten 50% (oder dem Pulver)  und beobachten damit sehr gute Wirkungen. Erwähnenswert ist ausserdem, dass die Verträglichkeit von Bryophyllum hervorragend ist. Sehr selten verträgt eine Patientin das Arzneimittel nicht.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Würden Sie bei den Unruhe-Patientinnen ebenfalls Bryophyllum geben?

Dr. med. A. Kuck:  Gegebenenfalls ja, aber hier muss die Dosierung tiefer sein. Gerade bei den ambulanten Fällen reichen dann oft zwei bis drei Gaben, bis sich die Situation der Patientin wieder normalisiert.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Sind vorzeitige Wehen aufgrund veränderter Lebensbedingungen in den letzten Jahren häufiger geworden, oder täuscht dieser Eindruck?

Dr. med. A. Kuck: Ich bringe es  überspitzt auf den Punkt, wenn ich sage: Frauen dürfen heute eigentlich gar nicht mehr schwanger sein! Die Mehrfachbelastung von Beruf, Familie und intensiver Freizeitgestaltung lässt oft nur noch wenig Raum. Und das hat Konsequenzen: Ich erlebe, dass wir heute zunehmend Mühe haben, mit dem Thema Schwangerschaft umzugehen. Es gibt zwei Tendenzen: Einerseits wird Schwangerschaft als Erhöhung der Belastung für die Frau erlebt. Die Schwangere hat, neben ihrem Berufs- und Familienleben, zusätzlich Termine für Voruntersuchungen, Schwangerschaftsgymnastik und anderes wahrzunehmen und damit vermehrt Stress. Andererseits werden viele Schwangere von ihrem Umfeld in Watte gepackt, so dass die Frauen sagen: "Ich fühle mich plötzlich wie eine Aussätzige!" Es gibt wenig Raum für Musse, es mangelt an Gelegenheiten, zur Ruhe zu kommen.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Erschweren moderne Lebensgewohnheiten diese Fähigkeit zum Loslassen?

Dr. med. A. Kuck: Ich denke, es hat Verschiebungen in der Wahrnehmung des Schwangerseins gegeben. Das ist sicher auf einen veränderten Lebensstil zurückzuführen. Eine Schwangerschaft bringt für die Frauen häufig Sorgen; ich beobachte, dass es für sie oft schwer ist, eine gewisse Gelassenheit zu erringen. Was man "guter Hoffnung sein" nannte und nennt, tritt eher in den Hintergrund. Im Vordergrund steht in erster Linie die Sorge um das Kind, Fragen um seine Gesundheit und Entwicklung. Routinemässig wird heute Ultraschall eingesetzt, was viele Fragen aufwirft, sobald etwas aus der Norm fällt. Diese Tendenzen hängen sicher mit der Entwicklung der Diagnosemöglichkeiten zusammen, die, sobald sie vorhanden sind, auch genutzt werden. Dies und veränderte Lebensgewohnheiten haben die Wahrnehmung von Schwangerschaft nachhaltig verändert. Es kann eine permanente Anspannung hervorrufen.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Ist Bryophyllum auch ein geeignetes Mittel für den Hausarzt, wenn er Patientinnen mit Spannungs- und Unruhezuständen hat?

Dr. med. A. Kuck: Für den Allgemeinpraktiker ist es sicher eine ideale Ergänzung bei Patienten, die zu Hyperaktivität oder Erregungs- und Reizzuständen neigen. Die Dosierungsfrage muss allerdings intensiv geklärt werden.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Kommen wir zur begleitenden Behandlung bei vorzeitigen Wehen: Gibt es Präparate, die neben Bryophyllum ergänzend eingesetzt werden müssen?

Dr. med. A. Kuck: Das allerwichtigste ist nicht ein Arzneimittel, sondern eine andere Lebensgestaltung. Gefragt ist Achtsamkeit. Die Schwangere muss sich von den Mühen und Mühlen des Alltags distanzieren können. Sie muss Abstand gewinnen und mehr auf sich achten können, sich spüren, in sich ruhen können. Wenn das gelingt, merken Schwangere auch, was für sie selbst und das Kind gut ist. Denn die vorzeitigen Wehen müssen auch als Äusserungen des Kindes verstanden werden. Das Kind sagt: "Das alles ist mir zuviel, ich will mehr Musse." Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede. Für die eine Mutter ist eine Ruhepause von drei Tagen genug, um sich zu erholen und Kraft zu tanken, für die andere ist nach mehreren Wochen noch jedes Aufstehen zu anstrengend. 

Dr. med. Kaspar Jaggi: Können Sie das Wesentliche von Bryophyllum in zwei Sätzen zusammenfassen?

Dr. med. A. Kuck: Die Arzneimittel mit Bryophyllum schaffen eine innere und äussere Gelassenheit und eine Schutzhülle. Bryophyllum hilft der Schwangeren, das richtige Mass zwischen Anspannung und Ruhe zu finden.

Dr. med. Kaspar Jaggi: Was sind die Vorteile gegenüber den herkömmlichen Betamimetika (wie z.B. Nifedipin)?

Dr. med. A. Kuck: Die Nebenwirkungen von Betamimetika, wie etwa Palpitationen (Herzklopfen) oder Blutdruckabfälle und Kopfschmerzen bei Nifedipin sind für die Schwangeren sehr unangenehm. Der grosse Vorteil von Bryophyllum liegt in seiner harmonisierenden Wirkung und Zuverlässigkeit – ohne Nebenwirkungen.

Herzlichen Dank, Frau Dr. Kuck, für dieses anregende Gespräch!

Das Interview führten Dr. med. Kaspar Jaggi und Michael Leuenberger.  Stand 2009. Es wurde swissmom freundlicherweise von der Weleda AG zur Verfügung gestellt.

Letzte Aktualisierung: 17.11.2009, BH