Die Gefahr lauert in der Torte
Zum ersten Mal begegnete mir das Phänomen, als ich selber noch keine Kinder hatte. Auf dem Zettel, den die Schüler meines Mannes vor dem Klassenlager abgeben mussten, notierte eine Mutter: "Luca darf keine grünen Gummibärchen essen, denn er ist allergisch auf grüne Lebensmittelfarbe." Mein Mann und ich zogen erstaunt die Augenbrauen hoch. Als Luca im Klassenlager dann erzählte, die Allergie auf grüne Lebensmittelfarbe sei nicht etwa durch ärztliche Untersuchungen festgestellt worden, sondern das Hirngespinst seiner überbesorgten Mutter, lachten wir schallend. Natürlich erst, als der Junge zu Bett gegangen war.
Ja, damals durfte man noch lachen über solche Sachen. Heute hingegen kommt schnell einmal die Frage auf, ob sich die Eltern auch richtig um ihr Kind kümmern, wenn es nicht mindestens eine Unverträglichkeit vorweisen kann. Lässt sich gar nichts in dieser Richtung finden, behilft man sich eben mit Nahrungsmittelverboten, die sämtliche alttestamentarischen Speisegesetze in den Schatten stellen. Darum braucht es heute ziemlich viel Mut, an einem Kindergeburtstag noch Torte zu servieren. Mit zehn kleinen Gästen läuft das etwa so:
Mia darf keine Torte essen, weil ihre Mama sich fast ganz sicher ist, dass ihre Tochter laktoseintolerant ist, weshalb sie keinen Schlagrahm essen sollte. Die Kinderärztin hat zwar trotz eingehender Untersuchungen nichts Auffälliges feststellen können, aber irgend einen Grund muss es doch geben für Mias anhaltende Müdigkeit. (Nein, da besteht ganz bestimmt kein Zusammenhang mit der Tatsache, dass Mia zweimal pro Woche Tennis spielt, Cello- und Tanzstunden nimmt, im regionalen Kinderchor mitsingt und neulich mit Karate angefangen hat.)
Auch Silja bekommt keine Torte, denn ihre Mama achtet jetzt ganz konsequent auf eine zuckerfreie Ernährung. Früher war bei Geburtstagspartys jeweils noch eine Ausnahme erlaubt, aber letzthin hat die Mama mal wieder nachgelesen, was Zucker im Körper alles anrichten kann und seither muss Silja froh sein, wenn sie hin und wieder eine Banane essen darf.
Bei Liam ist ebenfalls der Zucker der Grund für den Verzicht auf das Tortenstück. Die Eltern haben sich näher mit ADHS auseinandergesetzt, nachdem die Kindergärtnerin beim Standortgespräch angetönt hat, der Kleine sei manchmal etwas laut und aufgedreht, vielleicht sollten sie ihn mal abklären lassen. Einen Termin bei der Schulpsychologin haben sie noch nicht, aber seitdem sie bei Dr. Google gelesen haben, Zucker mache Kinder hyperaktiv, wollen sie mal testen, ob es bessert, wenn ihr Sohn ein paar Wochen lang nichts Süsses isst. (Die Gastgeberin würde sagen, den armen Zucker treffe ganz bestimmt keine Schuld an Liams Überdrehtheit, denn auch ohne Torte tanzt er gekonnt auf ihren Nerven rum. Zudem rezitiert er fehlerfrei ganze Filmsequenzen und später, als die Kinderschar sich im Wald austobt, sucht er vergeblich hinter der grossen Eiche nach dem Lavabo.)
Für Kai gibt es keine Torte, weil er an einer Glutenunverträglichkeit leidet. Nun gut, auch bei ihm ist nichts medizinisch nachgewiesen worden, aber Kais Mama fühlt sich einfach besser, seitdem sie sich konsequent glutenfrei ernährt und was ihr gut tut, wird dem Kind ja wohl nicht schaden.
Chiara will keine Torte essen, weil ihre Eltern sich in letzter Zeit stark für den Tierschutz einsetzen. Chiara dürfte zwar durchaus noch tierische Lebensmittel zu sich nehmen, aber seitdem sie einen Dokumentarfilm über die Batteriehaltung von Hühnern gesehen hat, traut sie keiner Speise mehr, die Eier enthält. Alle Beteuerungen, die verwendeten Eier stammten von einem Biobauernhof in der Nähe, wo Hühner ein glückliches Leben mit Hahn, Küken und ganz viel Auslauf führen dürfen, vermögen das Mädchen nicht zu überzeugen.
Mikael dürfte zwar Torte essen, aber nur, wenn sie nicht mit Bio-Gummibärchen verziert wäre. Die Mama hat dem Jungen nämlich eine lange Liste mit allen E-Nummern mitgegeben, die er nicht konsumieren darf. Die Torte hätte die Überprüfung bestanden, wenn die Gastgeberin nicht auf Mikaels Drängen hin den Abfalleimer nach der Gummibärchen-Verpackung durchwühlt hätte. Damit lässt sich leider zweifelsfrei belegen, dass die Gummibärchen E330 (Zitronensäure) enthalten. Die Erklärung, Zitronensäure sei eine natürliche Zutat, die auch in Früchten vorkomme, verfängt ebenso wenig wie der Vorschlag, Mikael könne die Gummibärchen ja einfach weglassen. Die Mama sei sehr streng in dieser Hinsicht, erklärt er.
Paula bekommt keine Torte, weil ihre Eltern nur vollwertige Lebensmittel erlauben. Sie hat ein Böxli mit zuckerfreien Vollkornkeksen dabei, an denen sie knabbert, während ihre Gspänli wortreich erklären, weshalb sie keine Torte essen dürfen.
Aaron mag keine Torte, aber weil er inzwischen weiss, wie schlecht man bei Erwachsenen ankommt, wenn man so "schnäderfrässig" ist, erklärt er, er habe eine schlimme Salzallergie. Schon die eine Prise Salz, die in der Torte steckt, könne zu schlimmen Hautausschlägen führen.
Auch Jenny leidet an keiner Unverträglichkeit, aber ihre Mama, die sich ihre Kleider in der Kinderabteilung kaufen kann, weil sie kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen hat, macht sich Sorgen, die Tochter könnte zu dick werden. Das Kind ist eben noch etwas pausbackig. Also auch keine Torte für Jenny, die übrigens glaubt, sie leide an einer Fettallergie, weil die Eltern ihr das so gesagt haben, um sie von fettreichen Nahrungsmitteln fernzuhalten.
Einzig Nick greift herzhaft zu, denn er ist unendlich dankbar, dass die Gastgeberin seinetwegen eine Torte ohne Nüsse gebacken hat. Nüsse lösen bei ihm nämlich einen gefährlichen Allergieschub aus. Die Spielkameraden schauen mit grossen Augen zu, wie Nick genüsslich seinen Kuchen verspeist. Noch nie haben sie ein Kind gesehen, das sich so furchtlos auf eine derart gefährliche Sache gestürzt hat. Das kann er bestimmt nur, weil er stets sein Notfallset und seinen Allergiepass bei sich hat, seitdem er einmal wegen einer schlimmen allergischen Reaktion ins Spital eingeliefert worden ist.
Nicks Freunde wünschen sich, sie hätten auch so eine Geheimwaffe, die sie vor den Gefahren beschützt, die in der Torte lauern.