Lang lebe das Ammenmärchen!
"Steck dir nicht das Messer in den Mund, sonst werden die Zähne rostig!"
"Zieh dir die Decke nicht höher als bis zum Schlüsselbein, sonst erstickst du im Schlaf!"
"Topfpflanzen im Schlafzimmer sind gefährlich, weil sie dir nachts den Sauerstoff rauben."
"Zwischen dem Fleisch- und dem Fischgang muss man ein Sorbet essen, sonst droht der Tod."
Mit solchen Weisheiten lehrte meine Schwiegermutter meinen Mann in seiner Kindheit das Fürchten und natürlich war sie auch sofort mit Ammenmärchen zur Stelle, als sie erfuhr, dass ein Enkel unterwegs war. Das erste begegnete mir in Form eines Wäschekorbs mit ausklappbaren Beinen, den sie mir schenkte. Nicht etwa, um mir die mit zunehmendem Bauchumfang schwerer werdende Arbeit zu erleichtern, sondern um das Ungeborene zu schützen. Ich sollte mich nicht mehr bücken, weil sich sonst die Nabelschnur um den Hals des Babys wickeln könnte. Von da an ging es munter weiter. Die Sache mit dem Stillen, zum Beispiel, sollte ich mir besser noch einmal überlegen, denn wenn die Milch nicht gleich nach der Geburt in Strömen fliesse, sei da nichts mehr zu machen, dann werde das Kindchen ohne Fläschchen verhungern. Hatte eines unserer Kinder Fieber, riet sie uns dazu, es ganz warm anzuziehen und mit einer dicken Decke zuzudecken, damit es die Sache ausschwitzen könne. Wollte eines zeigen, wie furchterregend es schielen konnte, sollten wir das sofort stoppen, damit die Augen nicht für immer in dieser Stellung blieben. Und hätte ich mich in schwangerem Zustand je dem Feuer genähert, hätte sie mir vermutlich gesagt, ich dürfe meinen Bauch nicht berühren, weil das Kind sonst ein Feuermal bekomme. Mein Mann und ich lachten natürlich nur und taten mit unseren Kindern weiterhin das, was wir für richtig hielten.
Schwiegermutter war nicht die einzige, die damit klarkommen musste, dass wir ihre Warnungen in den Wind schlugen. Auch andere, die uns mit Weisheiten aus alten Zeiten beistehen wollten, nahmen wir nicht allzu ernst. Den alten Mann nicht, der mir in der letzten Schwangerschaft direkt ins Gesicht sagte, das werde ganz bestimmt ein Mädchen, ich würde ja von Tag zu Tag hässlicher, das Kind habe mir meine Schönheit geraubt. Die alte Frau nicht, die mir erklärte, in den ersten sechs Wochen dürfe ich mit einem Neugeborenen auf gar keinen Fall nach draussen gehen, das sei gefährlich. Und auch die Bekannte nicht, die darauf bestand, unserem Erstgeborenen ein paar Münzen für Schulhefte und Bleistifte ins Bettchen zu legen, auf dass er eines Tages ein Akademiker werde.
Wir konnten das alles einfach nicht für bare Münze nehmen - und wir mussten es auch nicht. Meine Generation ist zu aufgeklärt und zu allgemeinwissend, als dass wir uns jeden beliebigen Bären aufbinden lassen müssten. Hebammen und Ärzte stehen uns mit ihrer wissenschaftlich fundierten Bildung zur Seite und falls die mal keine Zeit haben, unsere Fragen zu beantworten, finden wir mit unseren Unsicherheiten Zuflucht im Internet.
Wer nun aber glaubt, die Gattung Ammenmärchen sei damit erledigt, der irrt. Die Dinger sind weitaus zäher als man denkt. Und auch wandlungsfähiger. Denn wenn man sie nicht mehr ernst nimmt, wenn sie aus dem Munde einer besorgten Schwiegermutter kommen, finden sie eben einen anderen Weg, um zu den jungen Müttern zu gelangen. Und plötzlich tauchen sie auf, wo man sie nie erwartet hätte.
Zum Beispiel in Form einer esoterisch bewanderten Hebamme, die mal gelernt hat, dass man sich dem Leben nur öffnen muss, damit man Gutes empfangen kann. Und so erklärt sie der Gebärenden mitten in den schlimmsten Wehen, sie müsse die Schmerzen nur mit offenen Armen empfangen, dann werde das Kind wie von selbst herausflutschen.
Oder in Form von Promi-Müttern, die predigen, man müsse die Plazenta verspeisen und ab und zu ein Bad mit Muttermilch nehmen, dann sei so ziemlich alles aus der Welt geschafft, was einem das Leben mit Kind erschweren könnte. Studien, die belegen, dass das Zeug, das die Schönen und Reichen von sich geben, auch wirklich wahr ist, braucht kein Mensch. Die perfekten Bilder sind Beweis genug.
Die fieseste Form aber, in der sich Ammenmärchen verstecken, sind wissenschaftliche Erkenntnisse, die allmählich Staub ansetzen. Da bläut man zum Beispiel Müttern von allergiegefährdeten Babys über Jahre ein, sie müssten in der Ernährung dieses und jenes weglassen, damit das Kind weder Asthma noch Neurodermitis bekomme. Und dann - Zack! - kommen ein paar Studien daher, die alles, was eben noch wahr war, widerlegen. Weil aber die Mutter, die sich sklavisch an die eben noch geltenden Vorschriften gehalten hat, inzwischen mit pubertären Wutausbrüchen mehr als genug zu tun hat, bekommt sie nicht mit, dass die Wahrheiten geändert haben. Und so geschieht es, dass sie Jahre später einen Schreckensschrei ausstösst, wenn der erste Enkel trotz Allergiegefährdung eine gewöhnliche Brotrinde bekommt, um darauf zu kauen. "Himmel, das Kind soll im ersten Lebensjahr doch keinen Weizen essen!", ruft sie entsetzt, doch die Tochter oder der Sohn schüttelt nur mitleidig den Kopf und sagt: "Aber Mama, das ist doch ein Ammenmärchen. Das hat die Wissenschaft schon längst widerlegt."