Fördern Sie Ihr Kind auch richtig?
Also ich meine so mit Babysingen, Kinder-Uni und Frühchinesisch? Sind Sie sich auch ganz sicher, dass Sie alles unternehmen, damit Ihr Kind dereinst, wenn mal wieder das ultimative, noch nie dagewesene, umwerfende Supertalent gesucht wird, auch eine reelle Chance hat, entdeckt zu werden? Und halten Sie sich auch immer schön brav auf dem Laufenden, damit Sie garantiert keinen der neuesten Trends in Sachen Frühförderung verpassen?
Wie? Sie scheren sich einen Dreck um die neuesten Trends und lassen Ihre Kinder einfach so aufwachsen, ohne hier und dort ein wenig nachzuhelfen, damit die Welt alsbald erkennen wird, welch einem Genie Sie das Leben geschenkt haben? Nun, wo Sie schon so ehrlich sind, kann ich Ihnen ja gestehen, dass keines meiner fünf Kinder je Frühförderung genossen hat. Schockierend, nicht wahr? Also sagen Sie das, was ich Ihnen jetzt erzähle, bitte nicht weiter:
Meine fünf Kinder sind ohne die Begleitung der perfekten Hebamme und des perfekten Gynäkologen, die wir vor der Geburt in einem strengen Auswahlverfahren ausgesucht haben, auf die Welt gepurzelt. Nein, sie haben das Licht der Welt in einem ganz gewöhnlichen Gebärsaal in einem stinknormalen Kantonsspital erblickt. Schrecklich, nicht wahr? Und als sie dann auf der Welt waren, die kleinen Menschen, da haben wir sie einfach mal lieb gehabt und dafür gesorgt, dass ihnen nichts fehlt. Für Babyschwimmen, Babysingen, Baby-Sprachkurse und dergleichen fehlten Zeit und Geld. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, damit aus den Kindern dereinst etwas werde.
Erstaunlicherweise lernte dennoch jedes der fünf ziemlich schnell einmal sitzen, krabbeln, laufen und reden. Ja, vor allem reden, so viel und so schnell, dass das Geschnatter am Tisch von Tag zu Tag lauter wurde. Wo viel geredet wird, bleibt wenig Zeit fürs Studium und deswegen mussten unsere Kinder auch jetzt, als sie grösser waren, auf Frühförderung verzichten: Kein Englisch, kein Chinesisch und schon gar keine Mathematik. Einfach nur spielen, Konflikte austragen, endlose Fragen nach dem warum und wozu stellen, Kuchen backen, auf den Kirschbaum klettern und Mama und Papa beim Aufräumen helfen. Arme, unterprivilegierte Kinder. Was soll bloss aus ihnen werden?
Nun, erstaunlicherweise haben wir inzwischen einen Zehnjährigen, der zwar kein Chinesisch spricht, der aber sowohl Geige als auch Klavier spielt und der sich so langsam aber sicher in ein wandelndes Lexikon über Johann Sebastian Bach verwandelt. Eine Achtjährige, die zwar hin und wieder mit den Zahlen einen Salat macht, die aber dafür haarscharf analysiert, was der Klassenkameradin fehlt, die sich immer so aufspielen muss und wie sich der Junge, der in der Schule gemobbt wird, wohl fühlt, wenn alle so gemein sind zu ihm. Einen Sechsjährigen, der liest und schreibt, weil er wissen will, was in all den spannenden Büchern über die Römer steht, und nicht, weil Mama oder Papa ihn dazu gedrängt haben, endlich lesen und schreiben zu lernen, damit die Kindergärtnerin auch schön beeindruckt ist. Die zwei Jüngsten haben sich noch nicht so sehr auf ihre Stärken festgelegt, die sind noch am Ausprobieren: Wie klingt das Klavier, wenn ich fest in die Tasten haue, wie tönt es, wenn ich ganz vorsichtig bin? Schaffe ich es, mich mit einer Hand am Türgriff hochzuziehen? Wie wird aus Mehl, Zucker, Ei und Milch ein Kuchen?
Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir, wenn ich Ihnen zum Schluss unser Modell zur Frühförderung vorstelle: Daran glauben, dass in jedem Kind ganz viele Fähigkeiten stecken, die Kinder experimentieren lassen, ihre Neugierde wecken und ihren Hunger nach Wissen stillen. Nach einiger Zeit des Fragens und Experimentierens dann die grosse Entdeckung: Das gefällt mir, davon will ich mehr, darin will ich mich vertiefen. Und dann kommt für uns Eltern der Zeitpunkt, in dem wir anfangen, ein Kind gezielt zu unterstützen. Nicht mit dem Ziel, aus ihm ein Genie zu machen, sondern mit dem Ziel ihm zu helfen, aus dem, was in ihm steckt, das Beste herauszuholen.