Erziehungsexperten unerwünscht
Wer Kinder hat, kennt die Situation: Du bist im Supermarkt, willst nur ganz kurz vor dem Mittagessen ein paar Kleinigkeiten einkaufen und plötzlich entschliesst sich dein Kind dazu, gleich hier und jetzt durchzudrehen. Es fängt zum Beispiel damit an, dass es um alles in der Welt jetzt sofort einen Wasserball haben will, den die böse Mama oder der böse Papa nicht kaufen will. Oder das Kind entscheidet sich, dass es zu gross ist, um in diesem blöden Einkaufswagen zu sitzen. Deswegen versucht es herauszuklettern, klammert sich zu diesem Zweck ans nächstbeste Regal – vorzugsweise ist es dasjenige mit den Eiern oder das Weingestell – und du fängst an Blut zu schwitzen, weil du dich vergeblich darum bemühst, dein Kind zum Schweigen zu bringen, es vor dem drohenden Absturz zu schützen und gleichzeitig das Regal am Umfallen zu hindern. Vielleicht läuft die Sache auch so, wie heute Vormittag bei mir: Der Zweijährige befreit sich aus dem Kinderwagen, schnappt sich ein paar Chilenische Granny Smith Äpfel und beginnt, damit Fussball zu spielen. Natürlich dauert es nicht lange, bis der grosse Bruder mittun will und schon haben wir zwei brüllende Jungs und eine sehr nervöse Mama, die versucht, ihrer Söhne wieder habhaft zu werden und die Äpfel, die sie nicht zu kaufen gedenkt, unter den Regalen hervorzuangeln.
Eigentlich ist es vollkommen egal, was die Sache jeweils ins Rollen bringt, die Folge ist stets die Gleiche: Während du versuchst, dein Kind wieder in den Griff zu kriegen, ohne dabei vollkommen auszurasten und Verrat an sämtlichen Erziehungsprinzipien zu begehen, taucht aus dem Nichts ein Erziehungsexperte auf, der sich durch deinen ungezogenen Nachwuchs massiv in der anspruchsvollen Aufgabe, eine Tube Mayonnaise und zwei Mokkajoghurts zu kaufen, gestört fühlt. Natürlich ist dieser Erziehungsexperte noch nie zuvor in seinem Leben einem derart schlecht erzogenen Kind und einer so unfähigen Mutter begegnet und es versteht sich von selbst, dass seine eigenen Kinder sich nie und nimmer so daneben aufgeführt haben. Wenn du Glück hast, ordnet er dich in der Schublade der „heutigen Eltern, die ihre Gofen immer nur vor den Fernseher setzen, nichts arbeiten und die sich ihre jämmerliche Existenz vom Steuerzahler finanzieren lassen“ ein, wodurch du in den Genuss weiterer Schimpftiraden kommst.
Bei mir lief die Sache heute nur deswegen halbwegs glimpflich ab, weil eine Mitmutter, die zufällig daneben stand, als ich mir anhören musste, wie unverschämt es doch sei, dass meine Söhne das Einkaufsvergnügen der anderen Kunden mit ihrem Gebrüll störten, für mich Partei ergriff. Gegen zwei empörte Mütter kommen selbst die zornigsten Erziehungsexperten nicht an und so musste die Dame von uns ablassen, ohne die Befriedigung zu erleben, dass ich sie auf den Knien um Verzeihung anflehte dafür, dass ich meinen Kindern das Trotzen noch nicht ausgetrieben habe.
Nach zehn Jahren Mutterschaft habe ich mich so halbwegs damit abgefunden, dass es Kinderhaben ohne sich einmischende Besserwisser hierzulande nicht gibt. Was ich aber noch immer nicht verstehe: Warum begreifen die Damen und Herren, die sich über mangelhafte Erziehungskünste beklagen, nicht, dass sie mit ihrer Einmischung genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich wollen? Sie wollen doch bezwecken, dass so schnell als möglich wieder Ruhe einkehrt, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Muss Mama oder Papa sich nämlich nicht nur mit renitenten Kindern, sondern auch noch mit zeternden Erziehungsexperten herumschlagen, dauert es meist erheblich länger, bis die Kinder sich wieder wie halbwegs gesellschaftsfähige kleine Menschen aufführen. Würde man Mama oder Papa zutrauen, dass sie durchaus in der Lage sind, ihren Nachwuchs wieder zu beruhigen, auch wenn es zurzeit nicht danach aussieht, wäre die Sache meist bedeutend schneller durchgestanden. Doch um Mama oder Papa gewähren zu lassen, müsste man zuerst mal davon ausgehen, dass auch heute die meisten Eltern ihre Aufgabe durchaus ernst nehmen, wenn auch die Erziehungsmethoden nicht mehr die gleichen sind wie vor dreissig Jahren.