Die Sache mit den Schuldgefühlen
Aufgeregt sitzt sie auf dem Rand der Badewanne, in der Hand das unscheinbare Teststäbchen. Tatsächlich, da zeigt sich eine zweite Linie, noch ganz schwach zwar, aber eindeutig. "Wahnsinn!", ist der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf geht. Und der zweite? Na, was wohl? "Habe ich in den vergangenen Wochen auch wirklich alles richtig gemacht?" Sie denkt nach, fragt sich, ob sie bereits schwanger war, als sie beim Abschiedsapéro des Arbeitskollegen ein halbes Glas Weisswein trank. Sie rechnet nach und kommt zum Schluss, dass der Weisswein noch erlaubt war. Doch wie ist das mit der Kopfwehtablette, die sie neulich eingeworfen hat, als der Schädel nicht zu brummen aufhören wollte? Da war sie doch eindeutig schon schwanger und sie ist sich fast sicher, dass auf dem Beipackzettel stand, Schwangere dürften das Medikament nur auf Verschreibung des Arztes einnehmen.Von diesem Gedanken bis zum nächsten ist es dann nicht mehr weit: "Ob ich überhaupt dazu tauge, Mutter zu sein?"
Die Kopfwehtablette hat offenbar keinen Schaden angerichtet, die Schwangerschaft entwickelt sich prächtig. Das hat auch die Gynäkologin beim letzten Untersuch bestätigt. "Alles bestens mit dem Baby", sagte sie. Die werdende Mama freut sich natürlich riesig über diesen Bescheid, dennoch ist sie leicht beunruhigt, als sie die Arztpraxis verlässt. Im Wartezimmer hatte sie nämlich viel Zeit, in einer Zeitschrift für werdende Eltern zu lesen und ihr ist bewusst geworden, wie viel sie bereits versäumt hat während der ersten Schwangerschaftswochen. Natürlich, sie nimmt alle Vitamine nach Vorschrift ein, verzichtet brav auf Koffein und achtet auf eine gesunde Ernährung. Aber da gibt es so viel mehr, was man als gewissenhafte Mutter tun sollte...
Endlich, nach schier endlosen neun Monaten und einer anstrengenden Geburt, ist das Baby da. Es ist kerngesund, wunderschön und schläft bereits nach drei Wochen erstaunlich gut. Es könnte eine wahre Freude sein, hätte nicht neulich die Nachbarin, die vor drei Monaten Mutter geworden ist, mit leisem Vorwurf in der Stimme bemerkt, es sei für Neugeborene das Beste, wenn sie, wann immer möglich, im Tragetuch mitgetragen würden. Seither plagt sie jedes Mal das schlechte Gewissen, wenn sie ihr Baby zum Schlafen in die Hängematte legt. Und dann hat gestern ihre Mutter gemeint, es wäre vielleicht doch besser, sie würde dem Baby Handschuhe anziehen, damit es sich nicht immer das Gesicht zerkratzt. Ob sie das wirklich tun soll?
Zweieinhalb Jahre später: Das Kind steckt mitten im besten Trotzalter und seitdem vor einem Monat die Zwillinge zur Welt gekommen sind, ist es nur noch schlimmer geworden. Jedes mütterliche "Nein" führt zum Tobsuchtanfall, jedes Mal, wenn sie sich zum Stillen aufs Sofa setzt, heckt der kleine Trotzkopf etwas aus, was sie in Rage treibt. Und dann ist sie auch noch so hundemüde... Am späten Nachmittag - die Zwillinge schreien gerade im Duett - schmeisst der Kleine seinen Sirupbecher gegen die Wand und jetzt platzt ihr der Kragen. Sie wird richtig laut, so laut, wie sie nie hatte werden wollen. Noch lange, als die Drei schon lange schlafen, macht sie sich selber Vorwürfe, weil sie derart die Fassung verloren hat. "Das ist doch ganz verständlich unter diesen Umständen", versucht ihr Mann sie zu trösten, doch sie ist zu enttäuscht von sich selber, als dass sie den Trost annehmen könnte.
Sie wird noch oft von Schuldgefühlen geplagt. Weil sie mit den Zwillingen nicht ins Babyschwimmen gehen mag. Weil sie keine dieser perfekten Geburtstagstorten hingekriegt hat, die heute auch von Müttern ohne Konditorenausbildung erwartet werden. Weil ihr Grosser noch nicht lesen kann, als er in die erste Klasse kommt, obschon sie ihm doch so viele Geschichten vorgelesen hat. Weil sie zu spät zum Elternabend kommt. Weil...
Eines Tages wird sie ihr erstes Enkelkind im Arm halten und ihr Sohn oder ihre Tochter wird sie anschauen und sagen: "Weisst du, Mama, ich bewundere dich. Du hast das ganz toll gemacht mit uns." Und sie wird denken: "Wenn ich das früher doch bloss erkannt hätte..."