Der Samichlaus und die Stimme der Vernunft
Neulich unterhielt ich mich mit unserem Jüngsten über den Samichlaus. Ob der Mann im roten Mantel mit dem weissen Bart dieses Jahr auch wirklich zu uns kommen werde, oder ob er wieder nur einen Brief schreiben werde, wollte der Kleine wissen. Als ich ihm versicherte, der Chlaus werde ganz bestimmt zu uns kommen, weil ich ihm eine Einladung geschickt habe, fragte er, ob denn der Briefträger wisse, wohin er diese Einladung bringen müsse. Aber bestimmt wisse der Briefträger dies, er sei ja schon so oft im dunklen Tannenwald beim Samichlaus gewesen, erklärte ich und mein Sohn wandte sich beruhigt seiner Schneeflocken-Produktion zu, die derzeit auf Hochtouren läuft. Auch ich wollte mich wieder meiner Arbeit zuwenden, doch die Stimme der Vernunft hielt mich davon ab:
"Was erzählst du deinem Jungen bloss für einen Mist?", fragte sie mich vorwurfsvoll.
"Ich habe ihm nur ein wenig vom Samichlaus erzählt", antwortete ich mit Unschuldsmiene, wohl wissend, dass die Stimme der Vernunft mir jetzt eine saftige Predigt halten würde. Tatsächlich legte sie sogleich los:
"Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Kinder nicht belügen sollst? Du erinnerst dich bestimmt noch an diesen Zeitungsartikel, in dem eine Kinderpsychiaterin schrieb, die zerbrechliche Seele eines Kindes nehme Schaden, wenn die Eltern unsinnige Gestalten wie den Samichlaus, den Osterhasen und Wilhelm Tell erfinden."
"Na ja, erfunden habe ich die drei nicht selber", wandte ich ein, doch dies beeindruckte die Stimme der Vernunft nicht im Geringsten. Also fuhr sie fort:
"Ob selber erfunden oder nicht, dumm ist es trotzdem, einen kleinen, vertrauensseligen Menschen derart an der Nase herumzuführen. Für den armen Jungen wird eine ganze kleine Kinderwelt zusammenbrechen, wenn ihm seine grossen Geschwister ihm eines Tages erzählen…"
"Dazu braucht er doch seine grossen Geschwister nicht", fiel ich der Stimme der Vernunft ins Wort. "Bis jetzt hat noch jeder früher oder später selber gemerkt, dass es den Samichlaus so, wie die kleinen Kinder ihn sich vorstellen, nicht gibt."
"Natürlich merkt es früher oder später jeder, aber muss denn diese bittere Enttäuschung unbedingt sein?"
"Jeder schöne Traum ist eben irgendwann zu Ende", gab ich zur Antwort und erschrak fast ein wenig über diese kühlen Worte.
Auch die Stimme der Vernunft schien ziemlich erstaunt zu sein: "Es ist doch nicht deine Art, so zu denken. Gewöhnlich legst du doch durchaus Wert darauf, deinen Kindern die Wahrheit zu erzählen. Wenn sie dich fragen, woher sie kommen, sagst du auch nicht, der Storch habe sie gebracht und lässt sie selber herausfinden, dass es den Storch so, wie sie ihn sich vorstellen, nicht gibt."
"Na, das mit dem Storch ist wohl eine ganz andere Geschichte", protestierte ich. "Wenn die Kinder nicht wissen, wie sie gezeugt worden sind, kann dies später böse Konsequenzen haben. Welche bösen Konsequenzen aber soll es haben, wenn ein Kind irgendwann herausfindet, dass im roten Mantel der Nachbar oder Papas Arbeitskollege steckt?"
"Nun, wenn es in deinen Augen keine schlimme Konsequenz ist, dass dein kleiner Sohn dir nie wieder richtig vertrauen wird und in seiner bodenlosen Enttäuschung die Freude am Leben verliert, darfst du ihm getrost weiter die Mär vom Samichlaus erzählen."
Ich musste lachen ob dem Zorn, mit dem mir die Stimme der Vernunft diese Worte an den Kopf schleuderte: "Jetzt malst du aber den Teufel an die Wand und dies, meine liebe Stimme der Vernunft, will so gar nicht zu dir passen."
Tief beleidigt machte sich die Stimme der Vernunft aus dem Staub und ich setzte mich zu meinem Sohn, um mit ihm ein paar Samichlaus-Lieder zu singen. Von diesem vernünftigem Geschwätz lassen wir uns doch die Freude an einem der schönsten Bräuche nicht vermiesen.