Mama und ADHS - Ein Erfahrungsbericht
Hunderttausend angefangene Dinge, nichts davon zu Ende geführt, das ohnmächtige Gefühl, trotz grossen Einsatzes nicht vom Fleck zu kommen und daraus resultierend die nagenden Gedanken, versagt zu haben und nichts zu können – in Mariannes Alltag mischte ADHS kräftig mit, ohne dass sie etwas davon wusste. Die Situation besserte sich, als sie Mutter wurde. Die Kinder gaben mit ihren Bedürfnissen dem Alltag eine Struktur und diese Bedürfnisse konnte Marianne stillen. „Das war etwas, was ich schaffen konnte. Mutter zu werden war eine sehr positive Erfahrung für mich“, erzählt sie. Die Hausarbeit blieb dabei aber auf der Strecke und so blieb das Gefühl, gewisse Dinge einfach nicht hinzukriegen.
Zur Diagnose ADHS kam Marianne auf Umwegen. Nach der Geburt ihres vierten Kindes hatte sie den Eindruck, eine postnatale Depression durchzumachen. Ihre Mutter, die infolge einer Hirnblutung ebenfalls an einer Depression litt, meinte aber, dies sei bestimmt nicht der Fall. Doch Marianne ging es immer schlechter, erst recht nach dem Tod ihrer Mutter. Schliesslich ging sie zum Arzt, der ihren Verdacht bestätigte, Antidepressiva verschrieb und sie zu einer Psychiaterin überwies. Mit dieser unterhielt sie sich auch über ihren Sohn, der nach diversen Untersuchungen, bei denen es nie zu einer eindeutigen Diagnose gekommen war, nun auf ADHS abgeklärt wurde. Ob sie selber auch schon daran gedacht hatte, sie könnte an ADHS leiden, fragte die Psychiaterin. Erst war Marianne sich sicher, dass dies nicht der Fall sein könne, doch nachdem sie sich intensiver mit den Symptomen auseinandergesetzt hatte, kam ihr Vieles bekannt vor. Am Ende der Abklärung war klar: Was Marianne schon in der Kindheit zu schaffen gemacht hatte, war eindeutig ADHS.
Als die Psychiaterin den Vorschlag machte, es mit Medikamenten zu versuchen, brauchte Marianne Bedenkzeit. Die Frage, ob sie diese ihr Leben lang einnehmen müsse, beschäftigte sie, doch die Psychiaterin erklärte ihr, dass es eigentlich darum ginge, die Muster zu durchbrechen, die das Gehirn schon von früher Kindheit an gespeichert hat. „Es braucht sehr viel, deinem Gehirn beizubringen, dass du den bekannten Weg nicht mehr gehen willst und bis es gelernt hat, dass die Automatismen von früher nicht mehr gelten“, weiss Marianne jetzt. Schliesslich war sie bereit, den Versuch zu wagen. Das Erlebnis war überwältigend. Endlich konnte sie sich auf eine Sache fokussieren und die Dinge zu Ende bringen. Inzwischen gelingt ihr dies auch, wenn sie mal vergessen hat, die Medikamente einzunehmen, denn sie hat gelernt, sich selber zu sagen: „Ich kann das und ich bleibe jetzt bei dieser Aufgabe, bis ich fertig bin.“ Sie hat auch gelernt, ein Kompliment anzunehmen, wenn ihr jemand sagt, dass sie eine Sache besonders gut kann. Und sie weiss, dass sie bei Weitem nicht die einzige ist, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Obschon sie eigentlich keine Ratgeber mag, las sie viele Bücher zum Thema und erkannte, dass auch andere Menschen mit der gleichen Herausforderung leben und dass sie es geschafft haben, damit umzugehen. „Das ist eine grosse Erleichterung. Es fällt dir dann einfach leichter, deine Diagnose anzunehmen und etwas zu unternehmen, damit es dir besser geht“, sagt sie. Inzwischen sieht Marianne ADHS als eine Chance, denn nun kann sie auch die Stärken, die sie dadurch hat, besser nutzen. „Ich bin zum Beispiel ein sehr empathischer Mensch“, erklärt sie, „und seitdem ich das weiss, kann ich viel vorsichtiger mit anderen umgehen, wenn mir etwas auffällt, das ich ansprechen möchte.“
Die grosse Herausforderung im Alltag sieht Marianne darin, dass es mit ADHS schwierig ist, alles unter einen Hut zu bringen. Die Kinder, der Haushalt, die Partnerschaft und dabei sich selber nicht zu verlieren – bei so vielen Dingen, auf die man sich konzentrieren sollte, kommt schnell einmal das altbekannte Gefühl auf, es nicht zu schaffen. Die Diagnose half der vierfachen Mutter nicht nur, sich selber in all dem besser zu verstehen und ihre Herausforderung anzunehmen, sie war ihr auch hilfreich, als die Abklärungen bei ihrem Sohn schliesslich ergaben, dass er ebenfalls eine leichte ADHS hat. Hätte sie sich nicht bereits so intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, wäre sie wohl anders mit seiner Diagnose umgegangen. So aber konnte sie sich offen mit der Frage auseinandersetzen, ob auch er mit Medikamenten behandelt werden sollte. „Mein Sohn kann sich selber sehr gut beobachten und mir genau erklären, wie er sich fühlt und was bei ihm passiert“, sagt sie. Dies gibt ihr die Gewissheit, dass er ihr auch mitteilen würde, wenn er mit dem eingeschlagenen Weg nicht mehr glücklich wäre.