Experteninterview zum Thema Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit
Interview mit Franziska Maurer von der "Fachstelle Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit"
swissmom: Verliert eine Frau ihr Kind, erleidet sie eine Fehl- oder Totgeburt, entsteht neben der Trauer auch Hilflosigkeit. Fragen wie „Wir sind gerade Eltern geworden und doch nicht…“, „Unsere Kinder fragen nach ihrem verstorbenen Geschwister und suchen nach Antworten“, tauchen auf und bleiben unbeantwortet. Wie kann die Fachstelle betroffenen Müttern und Familien schnell helfen?
Franziska Maurer: Am Info-Telefon der Fachstelle erhalten betroffene Mütter und Väter Bestätigung, Orientierung und Vermittlung von konkreten Hilfsangeboten. Bestätigung, dass ihre Reaktionen und heftigen Gefühle Ausdruck sind für ihr schmerzhaftes Erleben. Orientierung erhalten sie z.B. darüber, dass viele betroffene Eltern schwierige Erfahrungen machen im Kontakt mit ihren Mitmenschen, dass Angehörige oft aus Überforderung und Betroffenheit ausweichen oder durch tröstend gemeinte Aussagen die Eltern verletzen. Orientierung aber auch über das Angebot von Unterstützungsmöglichkeiten. Wir können den ratsuchenden Familien aus der ganzen Deutschschweiz Fachpersonen aus den Bereichen Geburtshilfe, Seelsorge und Körper- & Psychotherapie vermitteln.
Franziska Maurer ist Hebamme und hat in ihrer langjährigen Hebammenarbeit viele Familien in Verlustsituationen begleitet. Heute ist sie als Leiterin der "Fachstelle Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit" täglich mit betroffenen Familien in Kontakt. Mit Schulungen und Bildungsveranstaltungen leistet sie als Dozentin einen Beitrag, um Fachpersonen auf die herausfordernden Begleitaufgaben vorzubereiten, wenn ein Baby stirbt.
swissmom: Rund um den frühen Tod eines Kindes treten auch Fragen nach der Rechtslage in verschiedenen Bereichen auf: „Muss ich eine Totgeburt melden?“,“ Wie können wir unser Kind bestatten?“, „Habe ich nach einer Tot- bzw. Fehlgeburt Anspruch auf Mutterschaftsurlaub?“ ,„Wie sind die Krankenkassenleistungen?“
Franziska Maurer: Ein Kind, das nach der 22. Schwangerschaftswoche tot zur Welt kommt, ist nach Schweizer Gesetz meldepflichtig, das heisst, seine Geburt und sein Tod werden auf dem Zivilstandsamt registriert. Diese Meldung machen in der Regel Spitäler direkt, das müssen die Eltern nicht selber machen. Ein meldepflichtiges Kind hat Anrecht auf Bestattung, genau gleich wie ein älterer verstorbener Mensch. Kommt ein Kind vor der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt spricht man von einer Fehlgeburt und das Kind ist nach Gesetz nicht meldepflichtig. Vielen Eltern ist es ein grosses Anliegen, dass ihr so früh geborenes und verstorbenes Kind trotzdem im Familienbüchlein eingetragen wird. Einige Zivilstandsämter handhaben das sehr unbürokratisch und gehen auf diesen Wunsch der Eltern ein. Ein nicht meldepflichtiges Kind hat laut Gesetz kein Anrecht auf eine Bestattung. Auf vielen Schweizer Friedhöfen gibt es jedoch inzwischen Grabfelder für nicht meldepflichtige Kinder, so dass Eltern auch ihre ganz kleinen Babys würdevoll bestatten können. Seit dem Inkrafttreten des Mutterschaftsgesetzes haben Frauen bei einer Geburt nach der 23. Schwangerschaftswoche Anrecht auf Mutterschaftsurlaub, auch wenn ihr Kind tot zur Welt kommt oder kurz nach der Geburt stirbt. Leistungen von Hebammen, Ärztinnen und Ärzten während der Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit sind in der Grundversicherung des KVG geregelt und werden entsprechend von den Krankenkassen übernommen. In letzter Zeit kommt es leider vermehrt dazu, dass Krankenkassen die Kosten rund um eine Totgeburt nicht übernehmen wollen. Die Fachstelle setzt sich auf politischer Ebene dafür ein, dass diesbezüglich klare Verhältnisse geschaffen werden. Es ist ein bedenkliches Zeichen, wenn eine Gesellschaft Ereignisse wie den frühen Tod eines Kindes auf diese Weise ausklammert und die betroffenen Familien nicht einmal auf finanzieller Ebene als Familien anerkennt! Auf alle Fragen zur Rechtslage finden Eltern und Fachpersonen detaillierte Angaben auf www.kindsverlust.ch.
swissmom: Was gibt es für Selbsthilfeangebote?
Franziska Maurer: Der Verein Regenbogen Schweiz ist eine Selbsthilfevereinigung für Eltern, welche ein Kind verloren haben. Schweizweit bestehen Regionalgruppen, vielerorts auch extra Gruppen für Mütter und Väter, deren Kind rund um die Geburt gestorben ist. Mehr unter www.verein-regenbogen.ch
swissmom: Nach Fehlgeburt,Totgeburt oder frühem Tod eines Kindes können besondere Rückbildungskurse besucht werden. Es wird da auf körperlicher und seelischer Ebene Raum zum Austausch geboten. Können Sie uns Näheres zum Kursinhalt erzählen?
Franziska Maurer: Die Rückbildungskurse für Frauen nach Kindsverlust sind ein ausgesprochen wertvolles Angebot, das sich in den letzten Jahren zu mehreren Angeboten in der Deutschschweiz entwickelt hat. Wenn das Kind in der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt stirbt, erfährt der Zyklus „Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit“ einen schmerzhaften Bruch. Dies betrifft alle Schichten im Erleben der Frau, ganz stark auch die körperliche Ebene, die in der Zeit der Trauer oft vernachlässigt wird. Der Körper ist der Ort des Geschehens, er zeigt deutliche Spuren, dass das Kind da war, dass die Frau Mutter geworden ist. Der Kurs bietet den Frauen Gelegenheit, in sich wieder Halt zu finden, im doppelten Sinn wieder Boden unter den Füssen zu finden und das Vertrauen in ihren Körper zurückzugewinnen und zu stärken. Dies ist ein sehr wesentlicher Faktor für das Weiterleben als Frau und auch im Hinblick auf eine allfällige weitere Schwangerschaft. Zudem finden sich die betroffenen Mütter in einer Gruppe von grosser Solidarität und nicht selten bleiben wichtige Kontakte unter den Frauen weit über den Kurs hinaus bestehen. Auch das ist eine Form von Selbsthilfe.
swissmom: Auch Väter finden bei Ihnen Hilfe. Welche Angebote gibt es für Väter, die ihr Kind verloren haben?
Franziska Maurer: Da kann ich gerade an den Rückbildungskurs anknüpfen. Die Kursleiterinnen in Bern und Thun bieten im Rahmen des Rückbildungskurses für Frauen einen Elternabend an. Dieser Abend wird von der Kursleiterin, einer Hebamme, zusammen mit einem Mann, Psychologe und selber betroffener Vater, geleitet. Er bietet den Paaren Gelegenheit, sich für diese kurze Zeit ganz bewusst als Eltern zu zeigen und zu erleben. Und er bietet den Vätern Gelegenheit, unter sich auszutauschen über ihre Erfahrungen und Perspektiven. Nimmt eine Frau das Angebot der ambulanten Wochenbettbetreuung in Anspruch, so ist die Hebamme bei den Hausbesuchen in der Regel Ansprechperson und Begleiterin für die Wöchnerin und für den Vater. Das kann eine wichtige Unterstützung sein in der ersten Zeit zu Hause und in der Orientierungslosigkeit, wie die Eltern jetzt Eltern sein können, obwohl ihr Kind nicht mehr lebt. Für längerfristige Unterstützung stehen den Vätern Angebote aus dem Bereich Körper- & Psychotherapie zur Verfügung. Ein spezielles Angebot für verwaiste Väter, das ein Familientherapeut und selber betroffener Vater vor einigen Jahren in Bern lanciert hat, besteht leider wegen mangelnder Nachfrage nicht mehr. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass z.B. aus den Elternabenden im Rückbildungskurs wieder etwas Weiterführendes entsteht, ganz gezielt für Väter.
swissmom: Besonders unterstützend ist die Betreuung von Eltern von sterbenden Neugeborenen. Was können Sie zur palliativen Pflege des Kindes beitragen und wie können Sie den Eltern bei der Gestaltung der verbleibenden Zeit mit dem Kind unterstützend helfen?
Franziska Maurer: Wenn Eltern bereits in der Schwangerschaft erfahren, dass ihr Kind nicht lebensfähig sein wird und kurze Zeit nach der Geburt sterben wird, helfen wir mit Orientierung und Koordination. Eltern brauchen Informationen, wer welche Hilfe bietet, zum Beispiel Kinderspitex, Kinderarzt und Hebamme für eine Begleitung der ganzen Familie mit ihrem sterbenden Kind zu Hause. Wir machen sie auch darauf aufmerksam, dass es hilfreich sein kann, Kontakt mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin aufzunehmen, eine Begrüssungsfeier für das Kind zu planen und sich auch über den bevorstehenden Abschied Gedanken zu machen. Die Frage ist immer auch, wer von den Angehörigen mit einbezogen wird, wer das Kind kennen lernen soll, wie Geschwister ihren Bedürfnissen entsprechend begleitet werden.
Und wir beraten und unterstützen auch die Fachpersonen, die in die Familienbegleitung involviert sind. Sie erhalten bei uns vorbereitende Informationen und auch Unterstützung in Akutsituationen.
swissmom: Die Fachstelle bietet auch Betreuung für Folgeschwangerschaften an. Ein wichtiges Angebot, denn besonders dann sind Ängste gross und Unterstützung willkommen. Wie können Sie helfen und wo in der Schweiz finden sich solche Anlaufstellen?
Franziska Maurer: Die Unterstützung für eine Folgeschwangerschaft beginnt bereits im Moment, wo ein Baby stirbt. Je nachdem wie die Mutter und der Vater bereits da begleitet und unterstützt werden, sind die Weichen gestellt für das Erleben einer weiteren Schwangerschaft. Ist die Frau wieder schwanger, hat sie ganz individuelle Bedürfnisse. Sicher für alle ein Thema ist der Wunsch nach Sicherheit, der Umgang mit der Angst und das Fördern des Vertrauens. Viele Eltern entscheiden sich für eine Unterstützung durch verschiedene Fachpersonen. Die ärztlich-medizinische Begleitung ist ihnen ebenso wichtig wie die Unterstützung auf der körperlichen und psychischen Ebene durch eine Hebamme. Je nach Situation ist es auch notwendig und hilfreich, der Trauer um das verstorbene Kind noch einmal Raum und Aufmerksamkeit zu geben. Entsprechend vermitteln wir den Ratsuchenden Fachleute aus unserer Adresskartei. Bei allen Beratungen am Info-Telefon orientieren wir uns an der individuellen Situation dieser Mutter oder dieses Vaters. Wir respektieren ihre ganz persönlichen Strategien, die sie im Umgang mit diesem einschneidenden Lebensereignis entwickeln. Und wir versuchen, vorhandene Ressourcen aufzuzeigen und zu stärken und bei Bedarf ergänzende Angebote zu vermitteln.