Kinderspital-Eltern
Uns hat es mal wieder für ein paar Tage ins Kinderspital verschlagen und nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat und Mama eigentlich nur noch dazu da ist, Fragen des Pflegepersonals zu beantworten, Sirup zu reichen, frische Wäsche aufzutreiben und am Kiosk Nachschub an überteuerten Überraschungen zum Zeitvertreib zu besorgen, bietet sich ausreichend Gelegenheit, die anderen Eltern zu beobachten. Besonders spannend ist dieses Spiel natürlich auf der Notfallstation, aber auch später, wenn man das Krankenzimmer bezogen hat, geht einem die Unterhaltung nie aus. Da gibt es zum Beispiel:
1. Die Kick-Sucher
Ob der Dreijährige aus zwanzig Zentimeter Höhe auf den windelgepolsterten Hintern gefallen ist, die Fünfjährige sich eine Schramme am Arm zugezogen hat, oder der Teenager bereits seit drei Wochen an einem hartnäckigen Schnupfen leidet, der nun, am späten Samstagabend, endlich mal behandelt werden soll, gewisse Menschen finden immer einen Grund, ihren Nachwuchs umgehend ärztlicher Obhut anzuvertrauen. So bemerkte eine Assistenzärztin am Sonntagvormittag mit Blick auf die Uhr: "Jetzt kommen sie dann gleich. Sie haben ausgeschlafen, ausgiebig gefrühstückt, das Wetter ist nicht gerade toll, also macht man einen Ausflug auf die Notfallstation. Irgend etwas muss man sonntags ja unternehmen."
2. Die Panischen
Zu Beginn sind wohl die meisten von uns leicht panisch. Das Kind leidet, die Ursache für das Leiden lässt sich nicht auf Anhieb finden, die Wartezeit fühlt sich endlos an. Da kommt es schon mal vor, dass wir erleichtert aufschluchzen, wenn die Ärzte uns mitteilen, dass es nichts Gravierendes ist und dass wir in ein paar Tagen wieder nach Hause können. Gewöhnliche Eltern atmen in diesem Moment auf, für die Panischen hingegen fängt das Drama jetzt erst richtig an. Die Tränen fliessen reichlich, die weit verzweigte Verwandtschaft wird herbeigerufen, um sich mit ernster Miene am Krankenbett zu versammeln, bei jeder Regung des Kindes wird nach der Pflege geklingelt und nachts, wenn alles still ist, hört man das leise Weinen der Mutter. Fragt man irgendwann vorsichtig nach, was das arme Kind denn habe, presst die Mutter unter lautem Schluchzen hervor: "Lungenentzündung. Inhalieren und mindestens drei Tage Antibiotika intravenös, bevor wir nach Hause können."
3. Die Gelangweilten
Sie wollen auf gar keinen Fall hier sein, das erkennt man schon von weither, wenn man sie durch den Flur schlurfen sieht. Klar soll das Kind gesund werden, aber muss es denn ausgerechnet hier sein, wo man nicht kommen und gehen kann, wie einem beliebt und wo das Fernsehzimmer nicht mal mit einem anständigen Flat Screen ausgestattet ist? Sogar zum Rauchen muss man sich sich beim Personal abmelden, weil auf dem Balkon Rauchverbot herrscht und dabei ist ihr Nikotinbedarf doch jetzt, wo es dem Kind so mies geht, besonders hoch.
4. Die Skeptiker
"Muss es wirklich das von der Ärztin verschriebene Medikament sein, oder gäbe es da nicht ein viel besseres Mittel aus der Alternativmedizin? Warum bestehen die darauf, das Kind auch in der Nacht zu überwachen, anstatt es ungestört schlafen zu lassen? So kann es doch gar nicht richtig gesund werden. Als das Nachbarmädchen das gleiche hatte, haben die in der anderen Klinik alles ganz anders gemacht, warum also machen sie es bei meinem Kind so? Und überhaupt habe ich im Internet gelesen,..." Die Skeptiker finden immer etwas zum Hinterfragen und wenn sie nichts mehr finden, beklagen sie sich darüber, dass man sich andauernd die Hände desinfizieren muss. Die paar Käfer haben doch noch keinem ernsthaft geschadet, nicht wahr?
5. Die Routinierten
Noch bevor die Diagnose endgültig feststeht, ist die Betreuung für die Geschwister zu Hause organisiert und wenn das Kind von der Notfallstation in sein Krankenzimmer wechselt, hat Papa bereits frische Nachtwäsche, Zahnbürste, Spielsachen, Bilderbücher, Stofftiere und Arbeitsmaterial für Mama herbeigeschafft. Mama lauscht gelangweilt den Ausführungen zum Tagesablauf auf der Station und meint nur hin und wieder: "Das war beim letzen Mal noch anders. Gut, dass Sie das geändert haben. Das habe ich nämlich in der Qualitätsumfrage kritisiert." Das Pflegepersonal wird nur herbeigerufen, wenn man sich selbst nicht mehr zu helfen weiss und nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat, richtet man sich häuslich ein und koordiniert vom Krankenzimmer aus die Dinge, die dringend erledigt sein wollen. Hin und wieder kommt es beim Schichtwechsel zu einem freudigen Wiedersehen mit alten Bekannten: "Erinnern Sie sich noch an uns? Letztes Jahr waren wir mit einem Blinddarm im Zimmer 33."
6. Die Dauergäste
Man sieht ihnen an, dass sie sich schon längst damit abgefunden haben, den grössten Teil ihres Alltags hier zu verbringen. Sie tragen schwer und versuchen doch immer wieder, der ganzen Situation etwas Positives abzugewinnen und für ihre schwer kranken Kinder fröhlich zu sein. Uns andere, die wir nur vorübergehend und mit guten Aussichten auf Besserung hier sind, betrachten sie mit müden Augen und keiner nimmt es ihnen krumm, weil wir alle nur ahnen können, wie belastend es sein muss, wenn man nicht weiss, wann und ob es besser wird.
7. Die Dominanten
Egal, ob andere vor ihnen hier waren und egal, ob es anderen Kindern schlechter geht als ihrem, sie fordern immer volle Aufmerksamkeit und besten Service. Das Personal ist dazu da, ihre Wünsche zu erfüllen und sie bestimmen, welche Abklärungen neben den von den Ärzten vorgeschlagenen auch noch durchgeführt werden sollen. Die Zimmernachbarn sehen sie im besten Fall als Informationsquelle, im schlechtesten Fall als lästige Störenfriede, die einem den knappen Platz streitig machen. Solange sie hier sind, ist das Spital ihr Revier und darum braucht ihr Kind nachts um halb eins auch nicht zu flüstern, wenn es auf einmal den unbändigen Drang verspürt, seiner Mama eine ausführliche Geschichte zu erzählen.
Wie? Sie möchten gerne wissen, zu welcher Kategorie ich mich zähle? Nun, so genau kann ich das nicht sagen, da ich mich ja nicht selber beobachten kann. Vielleicht aber beantwortet der Hinweis, dass ich diese Kolumne an meinem Laptop im Krankenzimmer meines Sohnes schreibe, währenddem meine anderen Kinder von verschiedenen lieben Menschen betreut werden, Ihre Frage.