Irrgarten der Erziehung
"Kinder brauchen Grenzen", sagt einer im Brustton der Überzeugung.
"Jawohl, so ist das", bestätigt der andere. "Ein klar begrenzter Rahmen, in dem sich das Kind bewegen darf, bietet die nötige Sicherheit für ein gesundes Aufwachsen."
"Die Grenzen dürfen aber auf gar keinen Fall zu eng gesteckt werden. Ein bisschen Spielraum muss schon noch sein", mahnt der Dritte.
"Alles nur Quatsch", widerspricht der Vierte. "Kinder brauchen keine Grenzen, sondern gute Vorbilder, dann wird das schon mit der gesunden Entwicklung."
"Man sollte allerdings bedenken", gibt der Nächste zu bedenken, "dass ein allzu gutes Vorbild auch grossen Druck auslösen kann. Auf gar keinen Fall dürfen Vorbilder den Eindruck erwecken, sie seien perfekt."
"Ich würde sogar noch weiter gehen. Kinder lernen aus unseren Fehlern. Also keine falsche Furcht vor dem Scheitern. Authentizität ist das A und das O der gelungenen Erziehung", ergänzt einer das Votum seines Vorgängers.
"Erziehung! Wenn ich dieses Wort nur schon höre, wird mir schlecht", schnaubt einer mit angewidertem Gesichtsausdruck. "Zerrt nicht unnötig an ihnen herum, lasst sie wieder Kinder sein, wild und frei wie Pippi Langstrumpf."
"Genau, Pippi Langstrumpf!", jubelt ein Gesinnungsgenosse. "Alles, was sie zum Leben brauchen, haben die Kinder bereits in sich. Das Gute in ihnen wird sich schon Bahn brechen, wenn wir sie nur genug im Matsch spielen lassen."
Sein Berufskollege legt die Stirn in Falten und mahnt: "Pippi Langstrumpf wird vollkommen idealisiert. Auf gar keinen Fall sollten wir diesem Beispiel nacheifern. Vergessen wir bitte nicht: Dieses Kind musste in totaler Vernachlässigung ohne elterliche Aufsicht gross werden."
"Den heutigen Kindern würde etwas mehr Vernachlässigung nicht schaden", beschwichtigt ein Weiterer. "Helikoptereltern berauben ihren Nachwuchs vieler Erfahrungen und verhindern damit eine gesunde Entwicklung zur Selbständigkeit."
"Immer diese überzogene Kritik an den sogenannten Helikoptereltern. Was spricht denn dagegen, dass Eltern das Beste geben für ihre Kinder?", widerspricht einer, der die Dinge schon immer etwas anders gesehen hat als die anderen.
"Wobei es natürlich schon sehr gefährlich ist, sein eigenes Kind als Projekt zu sehen, das es möglichst perfekt abzuschliessen gilt", gibt der Nächste zu bedenken. "Viele von diesen Kindern landen vollkommen verzweifelt und gebrochen in meiner Beratung."
"Dieser Therapiewahn! Kindheit ist doch keine Krankheit", ereifert sich einer und verwirft aufgebracht die Hände.
"Natürlich ist Kindheit keine Krankheit, aber man muss halt schon aufpassen, nichts zu übersehen, was im späteren Leben Probleme machen könnte", mahnt ein Weiterer mit sorgenvoller Miene.
"Immer dieser starre Blick auf Probleme und Defizite. Lasst uns die Stärken der Kinder stärken. Lob lässt die Kleinen gedeihen", schwärmt ein Kollege.
"Lob ist nur dann wirkungsvoll, wenn wir es richtig anwenden", doziert ein Nächster. "Kinder haben ein unglaublich feines Gespür für unechtes Lob. Und selbstverständlich sollten sie nie für Selbstverständlichkeiten gelobt werden."
"Wo wir schon beim Thema Selbstverständlichkeiten sind: Anstand, Disziplin und Hilfsbereitschaft sollten wieder viel mehr ins Zentrum der Erziehung gerückt werden. Wir züchten kleine, verwöhnte Tyrannen heran. Wie sollen sie jemals in der Lage sein, ihr Leben zu meistern, wenn sie nicht frühzeitig lernen, sich zu fügen und mit anzupacken?", greift ein Weiterer den Faden auf.
"Da bin ich ganz anderer Meinung", widerspricht sein Gegenüber mit Nachdruck. "Kinder sollen sich voll und ganz auf Schule und Freizeit konzentrieren können, Hausarbeit ist Sache der Eltern."
"Freizeit? Die heutigen Kinder haben doch schon längst keine Freizeit mehr. Jede Minute ist verplant, der Förderwahn nimmt beängstigende Ausmasse an", warnt ein anderer.
"Ich finde solche Warnungen vollkommen übertrieben", beschwichtigt der Nächste. "Nur wer frühzeitig gefördert wird, kann sein volles Potential entwickeln. Ist das Zeitfenster, um etwas bestimmtes zu erlernen, erst einmal zu, ist es dafür zu spät."
"Ich frage mich einfach, wann sie denn überhaupt noch spielen sollen", wirft einer mit vor Empörung bebender Stimme ein. "Wir rauben unseren Kindern ihre Kindheit und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, lassen wir zu, dass sie beim Konsum von digitalen Medien verblöden."
"Nur keine Panik vor digitalen Medien! Es ist ein Märchen, dass Kinder dick, dumm und aggressiv werden, wenn sie zu viele Computergames spielen. Lasst sie doch einfach gamen, so viel sie wollen", entgegnet ein anderer.
"Aber Kinder brauchen doch auch in diesem Bereich Grenzen", widerspricht der Letze und damit wären wir wieder am Anfang der Diskussion. Eine Diskussion übrigens, die gewöhnlich nicht bloss in diesen kurzen Statements geführt wird, sondern über unzählige Buchseiten, Vortragsreihen und Forschungsstudien hinweg. So lange, bis die armen Eltern, die sich in diesem Irrgarten der Meinungen zurechtfinden sollten, nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Dann machen sie mit ihren Kindern am Ende halt einfach das, was ihnen ihr Bauchgefühl sagt und damit liegen sie meist gar nicht so falsch.