Ganz einfach kompliziert
Ohne Kinder hätte ich ja keinen Schimmer davon, wie kompliziert unsere Welt ist und wie sehr kleine, in meinen Augen unbedeutende Details ins Gewicht fallen. Ein paar Beispiele gefällig?
Nun, nehmen wir zum Beispiel einen simplen Legostein, sagen wir mal, einen ganz normalen 2 x 4 Stein in Gelb. Als typisches Kind der Siebziger würde ich glauben, man könne damit so ziemlich alles anstellen, was einem gerade in den Sinn kommt, vorausgesetzt natürlich, man habe ein paar weitere Steine, die sich mit dem Gelben zu einem Gebilde vereinen möchten. Seitdem ich Kinder habe, weiss ich aber, dass man einen solchen Legostein nicht isoliert betrachten darf, sondern ihn stets in seinem Kontext sehen muss. Nehmen wir mal an, da wäre ein kleiner Junge, der seinen "Boulder Blaster" bis auf den vorletzten Stein fertig gebaut hat, der gerade noch diesen einen gelben 2 x 4 Stein zur Hand hätte. Könnte er mit diesem sein Projekt vollenden? Aber nicht doch. Der "Boulder Blaster" hat keine gelben Steine, da kann man nicht einfach nehmen, was gerade noch in der Spielkiste liegt, da muss schon das Originalteil in Schwarz her. Oder nehmen wir an, der Gelbe wäre Teil einer speziell für Mädchen entworfenen "Elves" Packung. Als Lückenbüsser im U-Boot eines kleinen Jungen taugt der natürlich nicht mehr, weil er sich durch seine Nachbarschaft mit all den rosaroten, violetten und hellblauen Steinen eindeutig als weibliches Element erkennbar gemacht hat.
Es gibt aber auch noch andere Lebensbereiche, die viel komplizierter sind, als ich es mir je hätte vorstellen können. Früher zum Beispiel glaubte ich, es mache keinen Unterschied, ob Mama oder Papa die Gurte am Kindersitz festzurrt. Hauptsache, das Kind sitzt sicher, dachte ich. Dann aber kam der Tag, an dem mein Mann sich um den Kindersitz kümmerte, während ich die Einkaufstasche im Kofferraum verstaute, was ein derartiges Geschrei auslöste, dass die Leute sich nach uns umdrehten und jemand meinem Mann unterstellte, er tue dem armen Kindchen Gewalt an. Seither weiss ich, dass zwischen der Art, wie Mama die Gurte festzurrt und der Art, wie Papa das macht, Welten liegen müssen. Wie sonst käme ein Zweijähriger auf die Idee, einen solchen Aufstand zu machen, wenn Papa sich an der Gurte zu schaffen macht?
Oder die Sache mit dem verpassten Schlaf. Wenn unsereiner mal etwas spät ins Bett kommt, bleibt man eben am nächsten Morgen etwas länger liegen, wenn das nicht geht, gibt's einen Mittagsschlaf und wenn auch das nicht drin liegt, wird halt auf die Zähne gebissen, bis es am Abend etwas früher als üblich in die Federn geht. Begeht man aber den gravierenden Fehler, ein kleines Menschlein etwas später als gewöhnlich ins Bett zu bringen, lässt der Schlaf ewig auf sich warten und wenn er dann endlich gefunden ist, wird das Verpasste nicht etwa am nächsten Morgen nachgeholt. Im Gegenteil, dann ist noch früher als sonst Tagwache und geschlafen wird dann erst wieder, wenn es überhaupt nicht in den Tagesablauf passt, also zum Beispiel, wenn der Termin bei der Kinderärztin, den man doch eigens für die Zeit nach dem Mittagsschlaf vereinbart hat, auf dem Programm steht, was dann natürlich dazu führt, dass es abends keinen Feierabend gibt, worauf am nächsten Morgen... Ach, lassen wir die Details und bringen wir die Sache auf den Punkt: Wer es wagt, sein Kind ein einziges Mal zu spät ins Bett zu bringen, braucht Tage, wenn nicht gar Wochen, um diesen einen, kleinen Fehler wieder auszubügeln und den Schlafrhythmus wieder ins Lot zu bringen. So einfach ist das. Also, ich meine natürlich, so kompliziert...
Noch viele weitere Beispiele gibt es, die zeigen, wie falsch wir simpel konstruierten Erwachsenen jeweils liegen. Zum Beispiel, wenn wir glauben, der Plüschesel könne für Trost sorgen, während der Lieblingsteddy in der Waschmaschine ein Bad nimmt. Oder wenn wir auf die Idee kommen, bloss weil draussen Schnee falle, sei sonnenklar, dass die kurze Hose im Schrank bleibt. Oder wenn wir nicht begreifen wollen, wie unmöglich es ist, den Kakao aus der himmelblauen Tasse zu trinken, wo doch die Lindengrüne so viel schöner ist. Lauter Details, deren Wichtigkeit man auf gar keinen Fall unterschätzen sollte und darum muss ich manchmal schallend lachen, wenn Menschen, die keine Kinder haben, mit verträumtem Blick sagen: "Ach, weisst du, ich mag Kinder, die sind so herrlich unkompliziert."