Die falsche Mama zur falschen Zeit
Ein anstrengender Samstag neigt sich seinem Ende zu. Endlich Zeit, ein wenig im Garten zu sitzen, die Beine von sich zu strecken und gemütlich zu plaudern. Allmählich fällt der Stress des Tages von mir ab, doch bevor ich noch einen zufriedenen Seufzer von mir geben kann, werde ich von einem lauten Klirren hochgeschreckt. An der Strassenecke, an der unsere zwei Jüngsten mit ihren Freunden Fussball spielen, ist ein Küchenfenster in die Brüche gegangen. Der Letzte, der den Ball getreten hat, war unser Sohn.
Ein klarer Fall für die "Mach dir keine Sorgen, mein Kind. Die Versicherung regelt das schon"-Mama. Doch die einzige, die bei mir gerade noch verfügbar ist, ist die "Kind, musste das jetzt wirklich sein?"-Mama und das ist ganz eindeutig die Falsche. Schluchzend rennt der Junge davon, versteckt sich irgendwo, um mit seinem Elend alleine zu sein, bis endlich die richtige Mama die Zeit findet, ihm zu erklären, solche Dinge würden eben passieren, das sei alles halb so schlimm, weil Nachbars nette Menschen mit viel Verständnis für wilde kleine Jungs seien.
Solche Situationen gibt es in meinem Leben andauernd. Spätabends zum Beispiel, wenn die "Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir"-Mama gefragt wäre, drängelt sich nicht selten die "Himmel, wann gibt es hier endlich Feierabend?"-Mama vor.
Bräuchte ein Dreikäsehoch seine "Einfach toll, wie du auf diesen Baum kletterst"-Mama, steht da plötzlich die überängstliche "Mach dir bloss nicht weh, Kindchen. Willst du nicht lieber wieder runter kommen?"-Mama.
Sollte die "Ihr geht erst nach draussen, wenn hier fertig aufgeräumt ist"-Mama für Ordnung und Disziplin sorgen, fläzt sich an ihrer Stelle die "Lasst mich bloss mit euerem Ordnungsfimmel in Ruhe, sonst muss ich selber auch noch aufräumen"-Mama gähnend im Sessel und lässt die Kinder unverrichteter Dinge losziehen.
Hoffen die Kinder darauf, nach der Schule die "Aber klar mache ich euch hausgemachten Kartoffelstock"-Mama zu Hause anzutreffen, steht allzu oft nur die "Für mehr als Hörnli mit Apfelmus reicht die Zeit heute leider nicht"-Mama am Herd.
Wünschen sie sich die "Ich kann mich gar nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen"-Mama, wenn sie von einem gelungenen Streich erzählen, bekommen sie nur die moralinsaure "So etwas tut man aber nicht"-Mama. Als wäre das nicht schon schlimm genug, kommt wenig später die "Wir haben als Kinder auch mal einen furchtbar lustigen Streich gemacht"-Mama hervor, die nicht aufhören will, langweilige Geschichten zu erzählen, die sich vor mindestens tausend Jahren zugetragen haben.
Und wenn unsere Teenager in Anwesenheit ihrer Freunde die "Beachtet mich nicht, ich existiere gar nicht"-Mama erwarten, treibt statt dessen die "Wollt ihr nicht noch mit uns essen und uns eure geheimsten Geheimnisse anvertrauen?"-Mama ihr Unwesen.
Selbstverständlich gibt es auch die Tage, an denen die kindliche Erwartung und die mütterliche Verfassung erstaunlich gut aufeinander abgestimmt sind. Dann läuft alles prima. Zumindest, bis eines der anderen Kinder mit seinen Bedürfnissen die Minne stört. Während nämlich das eine ganz zufrieden ist mit seiner "Ich bin heute so unglaublich gut drauf"-Mama, hat das andere ein tiefes Bedürfnis nach einer "Lass uns gemeinsam Trübsal blasen"-Mama. Und schon wieder klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Man könnte glatt verzweifeln darob.
Muss man aber nicht unbedingt. Immerhin sind die meisten Kinder in dieser Hinsicht keinen Deut besser als ihre Eltern. Wäre ich dringend auf ein "Stets zu deinen Diensten"-Kind angewiesen, kriege ich stattdessen nicht selten ein "Ich bin doch nicht dein persönlicher Sklave"-Kind. Freue ich mich morgens auf ein "Ich könnte Bäume ausreissen"-Kind, begegnet mir ein "Lass mich bloss in Ruhe"-Kind. Und schon oft, wenn ich mich nach einem "Klar darfst du mich knuddeln bis ich kaum mehr Luft bekomme"-Kind gesehnt habe, waren danach meine Arme ganz zerstochen von dem "Ich bin heute ein Kaktus"-Kind, das ich an seiner Stelle eng umschlungen habe.