Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) bei Kindern

Was genau ist eine Legasthenie, Dyslexie oder eben Lese- und Rechtschreibstörung und kann sie therapiert werden?

Junge liest in einem Buch und hält sich die Ohren zu
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Gast­bei­trag von Mi­chae­la Da­vi­son

Endlich Lesen und Schreiben lernen! Wenn das Kind eingeschult wird, sind Vorfreude und Aufregung gross. Die anfänglichen Lese- und Schreibversuche mitsamt ihren Schreibfehlern gehören dabei natürlich dazu und sind anfangs auch reizend. Doch nicht alle Schüler verinnerlichen das Lesen und Schreiben nach dem vorgegebenen Tempo. Manchmal zeigt das Kind kein oder nur wenig Interesse am Lesen und Schreiben oder verliert sogar ganz die Motivation am Lernen.

Wenn es mit dem Lesen und Schreiben nicht klappen will und mehr Frust als Lust eintritt, sollten Eltern und Lehrpersonen wachsam sein: Es kann eine Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) dahinterstecken, auch bekannt als Legasthenie oder Dyslexie. Im deutschsprachigen Raum liegt die Häufigkeit einer LRS bei 5 bis 10 Prozent. Das bedeutet, dass Lehrer damit rechnen müssen, mindestens ein Kind mit LRS in ihrer Klasse zu unterrichten.

Beachten Sie!

Neben der LRS können sowohl Lese- als auch Rechtschreibstörung isoliert auftreten. Um eine Therapie richtig ansetzen zu können, muss deshalb unterschieden werden, ob es sich um "nur" eine Lesestörung handelt, "nur" eine Rechtschreibstörung vorliegt, oder ob das Kind eine kombinierte LRS hat (auch nicht selten in Kombination mit einer Rechenschwäche, der Dyskalkulie).

Die Symptome einer Lese- und Rechtschreibstörung


Allgemein kann von LRS die Rede sein, wenn:

  • Die Lese- und Rechtschreibleistung des Kindes deutlich unter dem Niveau liegt, das aufgrund des Alters und der Klassenstufe erwartet werden kann.

  • Das Defizit nicht durch fehlenden Schulbesuch, Mehrsprachigkeit oder Seh- oder Hörschwierigkeiten erklärt werden kann. Deshalb gilt es unbedingt, erst einmal abzuklären, ob Seh- und Hörvermögen des Kindes in Ordnung sind.

Die LRS kann sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Anfangs sehen die Fehler der betroffenen Kinder aus wie die aller Schreib-und Leseanfänger. Der einzige Unterschied: Die Probleme bleiben hartnäckig bestehen. Bei folgenden Symptomen sollten Eltern und Lehrpersonen deshalb aufmerksam werden:

Symptome beim Lesen

  • Deutlich verlangsamte Lesegeschwindigkeit.

  • Einzelne, vor allem längere oder seltenere Wörter werden nicht oder nur zum Teil gelesen.

  • Typisch ist, dass das Kind nur den ersten Teil des Wortes vorliest und dann mühsam versucht, den Rest des Wortes zu ergänzen oder zu erraten.

  • Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wörtern, Buchstaben oder Wortteilen.

  • Viele Lesefehler und mühevolles, stockendes Vorlesen; langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text.

  • Leseverständnis: Schwierigkeiten, den Inhalt des Gelesenen wiederzugeben, Zusammenhänge zu verstehen und Schlussfolgerungen zu ziehen.

  • Abnehmendes Interesse am Lesen.

  • Das laute Lesen in der Klasse plagt das Kind besonders, denn es macht im Vergleich zu den Mitschülerinnen kaum Fortschritte. Oft schwingt in der Stimme die Angst vor dem Vorlesen mit.

Insgesamt kann das Lesen und das Lernen an sich als sehr zeitintensiv und ermüdend empfunden werden. Und wenn das Kind das Gelesene nicht oder nur teilweise versteht, ist es auch nicht verwunderlich, dass es die Motivation am Lesen verliert. Dies kann sich schnell auf andere Schulfächer auswirken, in denen das Lesen vorausgesetzt wird (z.B. Textverständnis in der Mathematik). Und wenn irgendwann im Unterricht nicht mehr laut vorgelesen werden muss, steigt die Gefahr, dass die LRS unentdeckt bleibt und die schulischen und psychischen Probleme sich verschärfen.

Symptome beim Schreiben

  • Vertauschen oder Auslassen von Buchstaben in Wörtern

  • Einfügen falscher Buchstaben

  • Probleme bei der Anwendung von Rechtschreibregeln

  • Viele und vielfältige Fehler: Orthografie, Gross-/Kleinschreibung, Auslassungen, Ersetzungen

  • Starres, undeutliches Schriftbild; verkrampfte und unruhige Schrift

Die oft vermuteten typischen Rechtschreibfehler gibt es nicht. Betroffene Kinder machen dieselben Fehler wie andere Kinder auch, jedoch sehr viel häufiger und hartnäckiger. 

Allgemeine Symptome

  • negative Gedanken und Schuldgefühle

  • Traurigkeit, gedrückte Stimmung

  • schulbezogene Ängste und Stress

  • morgendliche Beschwerden (vor der Schule) wie Kopfschmerzen

  • Verweigerung von Schulbesuch und Aufgaben

  • aggressives Verhalten

  • Vermeidungsverhalten im Alltag: Oftmals vermeiden die Kinder, im Alltag zu lesen oder zu schreiben und fragen lieber nach, was auf dem Schild oder auf der Verpackung steht.

Liegen Anzeichen für eine LRS vor, sollten Sie mit der Diagnostik nicht warten. Sprechen Sie mit der Klassenlehrerin Ihres Kindes, um die richtige Anlaufstelle für die Erstellung einer Diagnose zu finden. Hierbei gilt es zu wissen: Kinder können ihre Defizite im Lesen oder Schreiben in den ersten Schuljahren gut durch Auswendiglernen kompensieren. Allerdings sind betroffene Kinder einem grossen Stress ausgesetzt und neigen dann zu Selbstwertproblemen oder emotionalen Störungen. Es ist daher wichtig, LRS frühzeitig zu erkennen. Es gibt Therapiemöglichkeiten, die die Symptome und Risiken eingrenzen und schulisches Versagen und psychische Folgestörungen verhindern können.

Leider wird LRS an vielen Schulen oft nicht erkannt, viele Lehrpersonen sind auf das Thema nicht sensibilisiert. Häufig vergeht deshalb zu viel Zeit und das Problem verschärft sich.

Gibt es bereits im Vorschulalter Anzeichen für eine LRS?


Ja, Anzeichen kann es bereits im Vorschulalter geben: Beispielsweise hat das Kind Mühe damit, Reime zu bilden oder zu erkennen, einzelne Laute eines Wortes herauszuhören oder zu bestimmen, mit welchem Buchstaben ein Wort beginnt. Ein weiterer Anhaltspunkt ist die Schwierigkeit, Laute zu einem Wort zu verbinden. Im Vorschulalter haben Kinder mit einer LRS häufig Probleme mit dem Klatschen von Rhythmen, der richtigen Betonung von Wörtern und beim Erkennen von Reimen.

Wann soll man handeln?

Erste Hinweise für eine Lesestörung kann es bereits in der ersten Klasse oder noch früher geben. Werden diese erkannt, kann das Lesevermögen frühzeitig gefördert werden. Für eine sichere Diagnose sollten Eltern allerdings mindestens bis zur Mitte der zweiten Klasse warten. Zu lange warten, in der Hoffnung, dass es sich irgendwann herauswächst, sollte man nicht. Eine LRS bleibt ein Leben lang bestehen.

Die Ursachen der Lese- und Rechtschreibstörung


Forscher gehen davon aus, dass die Risikofaktoren, eine LRS zu entwickeln, in erster Linie genetisch bedingt sind. Deshalb gehört ein familiär gehäuftes Auftreten einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu den bedeutsamen Risikofaktoren. Die genetische Disposition soll Veränderungen in Hirnfunktionen bei der Verarbeitung einzelner Buchstaben oder bei der Unterscheidung von Lauten bewirken. Wenn also jemand in Ihrer Familie bereits LRS hat, ist das Risiko, dass Ihr Kind davon betroffen ist, erheblich höher. Bestimmte Umweltfaktoren wie eine verzögerte Sprachentwicklung oder wenig Zugang zu Büchern in der frühen Kindheit können die Entwicklung einer LRS ebenfalls begünstigen.

So wird die Diagnose LRS gestellt


Eine Diagnose ist unerlässlich, damit die entsprechende Förderung spezifisch sein kann. Dies ist auch hinsichtlich eines Nachteilsausgleichs bei schulischen Leistungen wichtig. Rechtlich gesehen ist LRS eine Behinderung. Einen Anspruch auf Nachteilsausgleich gibt es deshalb nur mit einer sicheren Diagnose.  

Grundsätzlich gilt: Wenn neben dem Verdacht auf LRS ein Verdacht auf zusätzliche Beeinträchtigungen besteht, sollte unbedingt eine umfassende Abklärung gemacht werden.

Für eine aufschlussreiche Diagnose werden folgende Bereiche erfasst:

  • Das Lesen und Schreiben sowie die phonologische Bewusstheit (Logopädie)

  • Die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit (IQ-Test, Schulpsychologischer Dienst)

  • Gegebenenfalls eine umfassende neuropsychologische Untersuchung

Zu Beginn empfiehlt sich eine Erstabklärung/Screening bei der Logopädin und beim Augenarzt, um herauszufinden, ob ein Verdacht auf LRS überhaupt besteht. Ein erstes Screening kann auch von folgenden Fachpersonen ausgeführt werden: Schulische Heilpädagoginnen, Legasthenie-Coach bzw. Dyskalkulie-Coach.

Der Schulpsychologische Dienst kann schliesslich eine Diagnose stellen. Die Diagnostik beinhaltet eine fundierte Abklärung der kognitiven Fertigkeiten. Erst ab einer gewissen Diskrepanz zwischen IQ und Lesen/Schreiben wird von einer LRS im Sinne einer Störung ausgegangen. Übrigens: Auch der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst, Kinderspital/Kinderärzte, Psychologen (spezialisierte Fachpersonen) stellen Diagnosen. 

Bei der Diagnose ist zudem wichtig, die LRS von anderen Störungen abzugrenzen. Beispielsweise gibt es viele Kinder mit ADS/ADHS, die auch eine Lese- und Rechtschreibstörung haben.

In den meisten Kantonen übernimmt der schulpsychologische Dienst die Abklärung. Wo nicht, muss eine Abklärung selbst finanziert werden. 

Wichtig!

Mit mangelnder Intelligenz hat LRS nichts zu tun. Die zentralen Merkmale einer LRS sind eine ungenügende Rechtschreibung und/oder Lesefertigkeit bei normaler Intelligenz. Deshalb steht am Anfang einer ernstzunehmenden Diagnosenstellung neben der logopädischen Einschätzung auch die Abklärung aus psychologischer Sicht. Von LRS wird in der Regel nur bei einem normalen IQ gesprochen.

Warum die Abklärung einer LRS so wichtig ist


Dass eine LRS höchstwahrscheinlich genetisch bedingt ist, bedeutet nicht, dass sie nicht behandelbar ist. Eine Abklärung ist sehr wichtig, denn eine nicht diagnostizierte LRS kann dazu führen, dass das Kind trotz grossem schulischen Bemühen immer wieder Misserfolge erlebt. Dies kann sowohl für das Kind als auch für die ganze Familie eine sehr grosse Belastung darstellen. Ohne eine differenzierte Diagnose und eine darauf abgestimmte Therapie können die gesamte Lernmotivation, die schulischen Noten und das Selbstvertrauen des Kindes leiden, was letztendlich sogar zu psychischen Störungen führen kann. Darum ist die Zusammenarbeit von Fachpersonen und Eltern bei Diagnose und Therapie, im Idealfall noch vor der Pubertät, sehr wichtig.

Nachteilsausgleich bei einer Lese- und Rechtschreibstörung


Der Nachteilsausgleich meint gewisse Anpassungen im Unterricht und bei Prüfungen. Er stützt sich auf die Bundesverfassung und auf kantonale Richtlinien. Im Detail heisst das etwa: mehr Zeit in schriftlichen Prüfungen, stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen, Verwendung von Hilfsmitteln, keine benoteten Diktate. Je nach Schule und Kanton ist der Nachteilsausgleich inzwischen mehr oder weniger Routine. Eltern müssen sich jedoch aktiv darum bemühen.

Allerdings: Selbst wenn ein Nachteilsausgleich gewährt wird, ist dieser oft schwer durchzusetzen und längst keine Selbstverständlichkeit.

Therapiemöglichkeiten bei LRS


Schulische Heilpädagogen, private Therapeutinnen und die Eltern haben folgende Möglichkeiten:

  • Training der auditorischen, visuellen und motorischen Fähigkeiten

  • Training der phonologischen Bewusstheit

  • Training des Lesens und Schreibens selbst

  • Lernmotivation fördern und aufrechterhalten

  • Sich als Eltern die Therapieansätze erklären lassen: Vorsicht bei sog. „Heilsversprechen“

  • Lernfortschritte verfolgen, regelmässiger Kontakt mit den Lehrpersonen

  • Zusammenarbeit von Eltern, Therapeuten und Lehrpersonen

  • Zu Hause die Kinder zeitlich entlasten

Leider fehlen an vielen Schulen die nötigen Ressourcen an Logopäden und Heilpädagoginnen. So kann selbst nach einer Diagnose nicht die richtige Hilfe angeboten werden. Eltern müssen dann die Therapien selbst finanzieren.

Für ein selbstbestimmtes Leben mit LRS


Eine Lese- und Rechtschreibschwäche macht sich bis ins Erwachsenenalter bemerkbar und kann Betroffene ein Leben lang einschränken. Häufig haben betroffene Jugendliche beispielsweise trotz gleicher Intelligenz schlechtere Ausbildungschancen und können ihre Stärken weniger ausbauen. Und leider schreibt das Umfeld einer Person mit mangelnden Lese- und oder Schreibfähigkeiten meist automatisch schlechtere Fähigkeiten zu.

Trotz allem kann man mit der richtigen Unterstützung ein gutes und erfolgreiches Leben mit LRS führen. Dafür ist es aber enorm wichtig, offen und ohne Scham damit umgehen zu dürfen. Glücklicherweise befinden wir uns heute auf einem guten Weg der Entstigmatisierung der LRS.

Dennoch braucht es viel mehr Bewusstsein und Anerkennung in unserer Gesellschaft, damit auch das Gesundheitswesen sich verantwortlich fühlt, Schulen genauer hinschauen und schneller handeln und Therapieplätze verfügbar und finanzierbar sind.


Zur Person

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Michaela Davison ist Lektorin und Mutter dreier Kinder. Sie wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich. Zwar liest sie gern die Texte anderer, schreibt selbst aber auch leidenschaftlich gerne. Vor allem übers Elternsein. Weitere Infos unter Leselupe.ch

Letzte Aktualisierung: 15.09.2022, Michaela Davison, KM