Kinderbetreuung: Worauf Eltern achten sollten
Interview mit Nadine Hoch
swissmom: Gibt es heute genügend Kitaplätze in der Schweiz?
Nadine Hoch: Nein. Dies zeigt auch die Anstossfinanzierung des Bundes zur Schaffung von neuen Betreuungsplätzen. Sie läuft noch bis Januar 2019, denn es gibt noch immer Bedarf. Was wir aber feststellen: Es gibt eine punktuelle Sättigung in manchen Quartieren von grösseren Städten, zum Beispiel in Luzern, Basel-Stadt und Zürich. Die dort ansässigen Einrichtungen können schon seit längerer Zeit nicht mehr damit rechnen, eine hundertprozentige Auslastung zu erreichen. Dies gilt aber nur für einzelne Quartiere.
swissmom: In welchem Bereich ist der Bedarf an zusätzlichen Betreuungsplätzen besonders gross?
Nadine Hoch: Es gibt einen Mangel an Betreuungsplätzen für Säuglinge. Dies hängt mit den kurzen Mutterschaftszeiten in der Schweiz zusammen. Die Mütter müssen viel früher als im nahen Ausland, nämlich bereits nach drei Monaten, in den Beruf zurückkehren, wenn sie auf das Einkommen angewiesen sind. Regional gibt es einen Mangel an Betreuungsangeboten für Kindergarten- und Schulkinder. Diese Angebote werden weniger oft aus privater Initiative ins Leben gerufen, da sie meist in die öffentliche Schule integriert sind und man die Gemeinde selbst als Träger dieser Aufgabe sieht. Für die Gemeinden hat dieses Angebot jedoch grosse Kosten zur Folge. Darum scheut man sich auch, verbindliche Vorgaben zur Angebotsverpflichtung vorzugeben.
Nadine Hoch ist Geschäftsleiterin von kibesuisse, dem Verband Kinderbetreuung Schweiz. Dieser fördert den qualitativen und quantitativen Ausbau von familien- und schulergänzenden Kinderbetreuungsangeboten. Ihm angeschlossen sind Tagesfamilienorganisationen, Kindertagesstätten und schulische Tagesstrukturen in der ganzen Schweiz.
swissmom: Worauf sollten Eltern achten, wenn sie einen Betreuungsplatz für ihr Kind suchen? Woran lässt sich die Qualität einer Einrichtung erkennen?
Nadine Hoch: Neben der Frage, ob die Kita geographisch günstig gelegen und somit auf dem Arbeitsweg gut erreichbar ist, sollten die Eltern einen Einblick in den Betrieb nehmen. Wichtig ist, sich ein Bild zu verschaffen, wie viel ausgebildetes Personal angestellt ist und wie viele der Angestellten keine Ausbildung haben oder noch im Praktikum stehen. Eltern sollten sich auch die Räumlichkeiten und die Aussenräume zeigen lassen. Dann sind auch weitere Fragen wichtig: Wird nach einem pädagogischen Konzept gearbeitet? Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Eltern aus? Wie wird die Eingewöhnung der Kinder gehandhabt? Dort, wo die Eltern eine Auswahlmöglichkeit haben, weil es mehrere geographisch günstig gelegene Einrichtungen gibt, spielen auch die Sympathie und das Bauchgefühl mit. Eltern sollten zudem auf ein Qualitätslabel wie zum Beispiel das QualiKita-Label achten. Eine Betriebsbewilligung ist nicht zwingend ein Qualitätsgarant, da die Bestimmungen für die Führung einer Betreuungseinrichtung in manchen Kantonen zu wenig streng sind, respektive die Einrichtungen kaum überprüft werden. Sobald die Gemeinde und nicht der Kanton für Aufsicht und Bewilligung zuständig ist, ist bezüglich Qualität Vorsicht geboten, denn vor allem in kleineren Gemeinden sind die Behörden zu wenig vertraut mit der Aufgabe.
swissmom: Für Eltern ist es zuweilen schwer nachvollziehbar, weshalb die Krippentarife am einen Ort viel höher sind als am anderen. Wie kommt es zu diesen Preisunterschieden?
Nadine Hoch: Unsere föderalistische Struktur sieht vor, dass meist die Gemeinden für die Subventionierung von Betreuungsplätzen zuständig sind. Je nach politischer Zusammensetzung sind Gemeindebehörden hier mehr oder weniger grosszügig. Eltern sollten schon bei der Wahl des Wohnorts darauf achten, ob es eine Möglichkeit der Kinderbetreuung gibt und wie diese durch die Gemeinde unterstützt wird. Eine Betreuungseinrichtung erhöht die Standortattraktivität eines Ortes.
swissmom: Warum ist es in der Regel nicht möglich, dass ein Baby oder Kleinkind nur an einem halben Tag pro Woche in der Kita betreut wird?
Nadine Hoch: Aus der pädagogischen Forschung wissen wir, dass dieser Betreuungsumfang zu gering ist, als dass das Kind eine sichere Bindung zur Bezugsperson aufbauen kann. Ein halber Tag pro Woche ist da einfach zu knapp. Darum haben die meisten Kitas eine Mindestpräsenzzeit.
swissmom: Die Kita ist mehr als ein Kinderhütedienst während der Abwesenheit der Eltern. Was bietet diese Form der familienergänzenden Betreuung dem Kind?
Nadine Hoch: Eine Kita bietet heute nicht einfach nur Betreuung. Das Fachpersonal versteht auch einen non-formalen Bildungsauftrag als seine Aufgabe. Das Kind wird begleitet beim Entdecken der Welt. Diese Begleitung geschieht nicht passiv, sondern aktiv förderlich.
swissmom: Oft wird kritisiert, Kitas und Horte seien zu wenig flexibel, die Öffnungszeiten müssten sich mehr nach den Arbeitszeiten der Eltern richten. Ist dies überhaupt möglich?
Nadine Hoch: Dabei handelt es sich um die Erwachsenenperspektive und nicht um die Kinderperspektive. Ein Kind sollte nicht einen 14-Stunden-Tag in der Kita haben, ein 8-Stunden-Tag ist schon sehr intensiv. Dazu kommt, dass Abend- und Wochenendbetreuung sehr kostenintensiv sind, da sie nur von wenigen in Anspruch genommen werden. Diese Kosten müssen dann von den Eltern getragen werden. Wobei man sich natürlich schon neue Konzepte mit abends längeren Öffnungszeiten, z. B. bis 20 Uhr, überlegen muss. Es gibt aber auch andere Lösungsansätze. Eine Tagesfamilienorganisation ist bei nicht kita-kompatiblen Arbeitszeiten eine sehr gute Alternative, da diese Betreuungsform bezüglich der Zeiten flexibler ist. Oder: Ein Betrieb arbeitet beispielsweise mit einer Tagesmutter zusammen, die tagsüber in der Kita arbeitet und am Abend diejenigen Kinder, die länger betreut werden müssen, mit nach Hause nimmt. Die Kinder essen dann mit ihr gemeinsam das Abendessen, bevor sie von den Eltern abgeholt werden. Dies ist insofern eine optimale Lösung, weil die Kinder die Tagesmutter aus dem Kita-Alltag kennen. Solche neuen Modelle müsste es mehr geben.
swissmom: Kinderbetreuung ist in der Schweiz vorwiegend Frauensache. Woran liegt es, dass in Kitas und Horten so wenige Männer als Betreuer anzutreffen sind?
Nadine Hoch: Zum einen waren während langer Zeit die Löhne und die mangelnden Aussichten auf eine berufliche Karriere dafür verantwortlich, dass wenige Männer in der Kinderbetreuung anzutreffen waren. Heute besteht die Möglichkeit, im Anschluss an die Berufslehre ein Studium an einer Höheren Fachschule für Kindererziehung zu absolvieren und auch die Löhne sind besser. Die vertiefte Auseinandersetzung mit der pädagogischen Arbeit und mit Führungsaufgaben eröffnet auch Männern neue Perspektiven. Aktuell sind jedoch nur 2 bis 5 Prozent des pädagogischen Personals von familien- und schulergänzenden Betreuungseinrichtungen männlich. Dadurch kommt den Männern die Rolle der Exoten zu. Sie müssen dann zum Beispiel mit den Kindern Fussball spielen und raufen, obschon ihnen dies vielleicht gar nicht liegt und sie lieber andere Aufgaben übernehmen möchten. Dazu kommt, dass sich männliche Kita-Mitarbeiter mit dem Generalverdacht bezüglich sexueller Übergriffe konfrontiert sehen. Diese Unterstellungen führen leider dazu, dass vor allem junge Männer, die sich für diesen interessanten Beruf entscheiden, gar nicht in den Beruf einsteigen oder deswegen nicht lange im Beruf verweilen. Den Kindern entgeht so die Erfahrung, dass auch männliche Betreuer wichtige Bezugspersonen für sie sein können. Kindern eine geschlechtsneutrale Haltung vorzuleben, ist sehr wichtig, so vermitteln wir ihnen, dass sie alles tun und erreichen können und dies nicht abhängig vom Geschlecht ist.
swissmom: Kommen wir noch kurz auf die oben bereits angesprochene Tagesfamilienbetreuung zu sprechen. Welche Vor- und Nachteile hat diese im Vergleich zur Betreuung in der Kita?
Nadine Hoch: Ein grosser Vorteil der Betreuung in einer Tagesfamilie ist, dass sie viel flexibler ist im Bezug auf die Betreuungszeiten. Zudem handelt es sich um eine sehr familiennahe Art der Betreuung. Die Kinder befinden sich in einer kleinen Gruppe mit einer einzigen Bezugsperson. Mit den wechselnden Betreuungspersonen und der grösseren Kindergruppe in einer Kita sind manche Kinder überfordert. Die Betreuung in einem familiennahen Umfeld bedeutet aber, dass diese in den privaten Räumlichkeiten der Tagesfamilie stattfindet. Dies erfordert viel Vertrauen, das erst aufgebaut werden muss. Manche Eltern verstehen die Tagesfamilie auch als Konkurrenz, zum Beispiel, wenn das Kind sagt: "Irene kocht viel besser als du" oder: "Ich will heute lieber zur Tagesmutter gehen, dort ist es cooler als zu Hause." Hier gibt es ein Konfliktpotential, dessen man sich bewusst sein muss. Im Allgemeinen kann man aber sagen, dass die Tagesfamilienbetreuung eine wichtige, leider oft unterschätzte Betreuungsform ist. Voraussetzung ist, dass die Tagesfamilie in einer Tagesfamilienorganisation eingebettet ist.
swissmom: Warum ist dies so wichtig?
Nadine Hoch: Eine Tagesmutter, die bei einer Tagesfamilienorganisation angestellt ist, erfüllt wichtige qualitative Bedingungen. Sie muss einen pädagogischen Grundkurs sowie einen Nothelferkurs für Kleinkinder besuchen. Sie arbeitet nach einem pädagogischen Konzept und hält sich an den Verhaltenskodex zur Prävention sexueller Übergriffe. Ausserdem ist sie zu jährlich mindestens 3 Stunden Weiterbildung verpflichtet. Die Ausbildung ist natürlich nicht so umfangreich wie die dreijährige Ausbildung zur Fachperson Betreuung, die Kita-Mitarbeiter absolviert haben, aber Tageseltern haben meist eine grosse Erfahrung in der Kinderbetreuung. Ausserdem haben viele Frauen, die als Tagesmutter tätig sind, eine pädagogische Ausbildung. Tagesmütter in einer Tagesfamilienorganisation werden zudem fachlich von einer Vermittlerin begleitet. Für freischaffende Tageseltern, die bei keiner Organisation angestellt sind, besteht keine Verpflichtung, sich an die genannten Richtlinien zu halten.
swissmom: In Sachen Kinderbetreuung hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Wo besteht heute Handlungsbedarf, damit die Bedingungen für Familien verbessert werden?
Nadine Hoch: Die Frage, wer für die Finanzierung der Kinderbetreuung zuständig ist, müsste endlich geklärt werden. Eltern in der deutschsprachigen Schweiz tragen zwei Drittel der Betreuungskosten, in der Westschweiz ist es schon besser und sie müssen nur noch für einen Drittel aufkommen, was jedoch immer noch ein Vielfaches der Kosten im Vergleich zum nahen Ausland ist. Familienpolitik ist eine Minderheitenpolitik. Die Älteren finden, bei ihnen sei es auch ohne Kinderbetreuung gegangen, die Jüngeren sehen die Sache als nicht so wichtig an, solange sie nicht selber betroffen sind. Auch die Frage, inwiefern sich die Wirtschaft an der Finanzierung von Betreuungsplätzen beteiligen soll, ist unbeantwortet. Will die Schweiz bezüglich Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit weiter kommen, muss sie mehr Geld für die Finanzierung von qualitativ guter Kinderbetreuung in die Hand nehmen. Es sollte den Politikern eigentlich leicht fallen, denn wir wissen aus unzähligen Studien, dass sich jeder hier investierte Franken lohnt.