Mandelentzündungen bei Kleinkindern und Kindern
Interview mit Dr. Neuner Thomas
swissmom: In der Kindheit sind akute, eitrige Entzündungen der Gaumenmandeln (Angina) nicht selten. Können Sie uns die Symptome beschreiben?
Dr. Neuner Thomas: Die Mandelentzündung im Kindesalter ist meist eine Bakterien- oder Virusentzündung des lymphatischen Hals- und Rachenmandelgewebes.
Diese Entzündung ruft folgende Symptome vor: Fieber, Halsschmerzen, Schluckschmerzen, Ohrenschmerzen, Speichelfluss, Trink- und Essunlust, Mundgeruch, Nasenatmungsstörung mit Riechbehinderung, Schüttelfrost, Mundöffnungsbehinderung bis zur Kieferklemme.Komplikationen sind: Atemnot, Schluckunfähigkeit für Essen und Trinken, Blutvergiftung, Halsvenenverschluss (Thrombose), Mediastinitis (lebensbedrohliche Mittelfellentzündung im Brustraum und Herznähe). Ohne Behandlung kann man an den Komplikationen dieser Erkrankung versterben.
Interview mit Dr. Neuner Thomas, Spezialarzt für Ohren- Nasen- und Halskrankheiten. Dr. Neuner Thomas ist zur Zeit im SRO im Kanton Bern angestellt. Nebenberuflich unterrichtet er als Honorardozent in einer Luzerner Gesundheitsfachschule. Seine Ehefrau, Frau Dr. Nicole Neuner Thomas ist ebenfalls HNO-Fachärztin und praktiziert in der Stadt Bern.
swissmom: Wann sollte der Kinderarzt oder der Hals-Nasen-Ohren Spezialist den Verlauf einer Angina gut beobachten?
Dr. Neuner Thomas: Immer!
1. Der Verlauf einer Tonsillitis sollte immer sorgfältig beobachtet werden. Die Komplikationsquote steigt wieder, seit Antibiotika vorsichtiger eingesetzt werden.
2. Wenn unter begonnener Therapie keine rasche Zustandsverbesserung eingetreten ist.
swissmom: Welche Funktionen haben die Mandeln und welche gibt es überhaupt?
Dr. Neuner Thomas: Das Halsmandelgewebe besteht aus 5-6 verschiedenen Mandelgruppen. Diese heissen: Rachenmandel (kindliche Polypen), Gaumenmandeln, Zungengrundmandeln. Das Mandelgewebe gehört zum lymphatischen Gewebe des Körpers. Es dient dem Immunsystem als Ausbildungs- und Abwehrhelfer. Diese Aufgabe scheint mit dem vierten Lebensjahr abgeschlossen, dass die Entfernung des Organs zu keinen negativen Folgen für das Immunsystem des Kindes führt.
swissmom: Wie sollen Eltern handeln, wenn ihr Kind über starken Halsschmerzen klagt oder das Kleinkind Essen und Trinken verweigert und offensichtlich unwohl ist?
Dr. Neuner Thomas: Bei den oben beschriebenen Symptomen wird eine Konsultation beim Kinderarzt, Hausarzt oder Otorhinolaryngologen (HNO-Arzt) empfohlen. Diese beurteilen neben den klinischen Befunden u. U. mit Hilfe von Laboranalysen, Schnelltests oder bei Rückfällen einem Rachenabstrich das Ausmass der Erkrankung und empfehlen die entsprechende Therapie. Die Medikamententherapie stützt sich im wesentlichen auf eine Schmerztherapie und eine antientzündliche, antiinfektive Therapie. Nicht jede Tonsillitis benötigt die Gabe eines Antibiotikums. Seltener sind Infusionen zum Flüssigkeitsersatz im Spital erforderlich. Eine lokale antiseptische Therapie ist bei Kindern ab dem 5. Lebensjahr sinnvoll (Mundspülung).
swissmom: Wann werden heutzutage Mandeln operativ entfernt? Und welche Mandeln entfernt der Spezialist in der Regel bei Kleinkindern und Kindern?
Dr. Neuner Thomas: Die Entfernung der Rachenmandel ist empfohlen:
1. Kindliches Schnarchen mit Atemaussetzern
2. Mehrere antibiotikapflichtige Mittelohrenentzündungen
3. Wiederkehrender Schnupfen mit farbigem Sekret
4. Bei chronischen Sekretansammlungen im Mittelohr profitiert das Kind von einer Rachenmandelentfernung in Kombination mit einer Trommelfelldrainage (sogenannte Paukenröhrli).
Die Entfernung der Gaumenmandeln wird empfohlen:
1. Mehrfachen antibiotikapflichtige Anginen
2. Kindliches Schlafapnoesyndrom (keine Histologisierung des Mandelgewebes)
3. Mandelabszess
4. Asymmetrische Mandelschwellungen (Feingewebliche Untersuchung des Mandelgewebes obligatorisch empfohlen).
Die Entfernung der Zungengrundmandeln:
Hat für das Kleinkind praktisch keine Bedeutung. Die Zungengrundmandelentfernung wird heutzutage angewendet, um den Luftraum hinter der Zunge bei Erwachsenen mit schlafbezogenen Atemstörungen zu erweitern.
swissmom: Wann werden heutzutage Mandeln operativ entfernt?
Dr. Neuner Thomas: Die Indikationen für eine Tonsillektomie (Mandeloperation) sind folgende:
mehrere antibiotikapflichtige Mittelohrenentzündungen
Mittelohrerguss mit Hörminderung und Spracherwerbsverzögerung
kindliches Schnarchen mit Atemaussetzern (Apnoe)
mehrere antibiotikapflichtige Gaumenmandelentzündungen
Mandelabszess (Eiterhöhlenbildung)
asymmetrische Mandelvergrösserungen zum Ausschluss einer Neoplasie (Neubildung von Gewebe)
swissmom: Wie müssen sich Eltern eine solche Operation vorstellen?
Dr. Neuner Thomas: Die Mandelentfernung ist eine Operation in Vollnarkose. Das Kind liegt dabei auf dem Rücken. Ein Narkosearzt überwacht die Kreislauffunktion und die Atmung. Der HNO-Arzt beginnt nach Abdecken des Patienten mit dem Eingriff. Dieser dauert ca. 20-30 Minuten. Mit Hilfe eines Mundsperrers, eine Art gepolsterte Zange, die Zunge und Zähne in die richtige Position fixiert, beginnt die Einstellung des Operationsfeldes in Kopftieflagerung des Kindes. Damit der Operateur eine gute Sicht und Arbeitsmöglichkeit hat, benutzt er eine zusätzliche Lichtquelle welche über ein Lichtkabel auf den Kopf des Operateurs, in den Mund des Patienten geleuchtet wird. Mit einem speziellen Schabewerkzeug wird die Rachenmandel aus der Position des oberen Schlundes geschnitten. Die Gaumenmandeln werden im Anschluss entlang der Verbindungskapsel zur Schlundseitenwand herausgelöst. Im Anschluss und während der Mandelentfernung wird eine sorgfältige Blutstillung vorgenommen. Dazu zählen die Einlage von essigsauren Tonerde Tupfern wie auch die Elektrokoagulation. Je nach Bedarf wird eine Gaumenbogenadaptationsnaht durchgeführt. Der Operationserfolg und die Blutstillung können unmittelbar mit einem Spiegel oder Stabauge (Endoskop) kontrolliert werden. Die Entfernung mit Laserschneidegeräten zeigte keine Vorteile gegenüber der klassischen Operationsmethode und wurde wieder verlassen. Die Verwendung eines lokalen Narkosemittels zur Injektion in die Mandelkapsel reduziert einerseits die Blutungsneigung während der Operation und kann den postoperativen Schmerzmittelbedarf senken. Eine postoperative Antibiotikatherapie kann die Dicke der Beläge reduzieren und ebenfalls das Schmerzniveau günstig beeinflussen.
swissmom: Wie lange muss ein Kind nach einer Mandeloperation im Spital bleiben?
Dr. Neuner Thomas: In der Schweiz beträgt die Hospitalisation üblicherweise 2-3 Tage. In Nachbarländern sind kürzere und längere Hospitalisationen bekannt. Beide Vorgehensweisen sind an und für sich richtig. Sie tragen den infrastrukturellen Gegebenheiten des jeweiligen Gesundheitssystems und der Anspruchshaltung Rechnung. Die Krankenkassen versuchen durch verkürzte Kostengutsprachen für Mandeleingriffe die Aufenthaltsdauer der Patienten in ihrem Sinne zu regulieren. Bekannt ist, dass die Häufigkeitsgipfel der Hauptkomplikation Nachblutung am ersten und am siebenten Tage (wenn die Krusten lösen) sind. Jedoch sind Nachblutungen bis zum 23. postoperativen Tage und darüber in der Literatur publiziert worden. Die postoperative Nachsorge der Patienten und Eltern ist von zentraler Bedeutung. Diese stützt sich auf folgende Handlungsanweisungen 14 Tage nach Mandelentfernung:
keine heissen Getränke oder heisse Mahlzeiten
säurearme Kost, wenig Zucker
keine harten Speisen
keine heissen Vollbäder oder Duschen,
keine Reisen
keine sportlichen Aktivitäten des Kindes mind. 4 Wochen
bei Jugendlichen und Erwachsenen Verzicht auf sexuelle Aktivitäten
kein mechanisches oder elektrisches Zähneputzen (entsprechende Mundspülungen erlaubt)
Arbeitsunfähigkeit / Kindergarten oder Schulfrei für 2-3 Wochen
Luftbefeuchtung
Wenn zwei Geschwister einer Familie zum selben Zeitpunkt die Operation planen wird empfohlen, dass für eine zusätzliche Betreuung gesorgt ist, wenn ein Kind eine spitalpflichtige Komplikation erleidet. Einige HNO-Ärzte operieren aus diesem Grunde Geschwister nicht am selben Tage. Weitere postoperative seltene Probleme sind bekannt: Zeitweise Schluckstörungen, Zahnschäden, Infektionen, zeitweilige Stimmveränderungen, Druckschäden der Zunge, Geschmacksstörungen.