Kinder brauchen Bewegung: Ein Plädoyer für das Spielen im Wald
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Urs Eiholzer
Wir übertragen unsere Bewegungsarmut auf unsere Kinder und tun ihnen damit nichts Gutes. Denn Kinder, die sich viel bewegen, sind nicht nur gesünder, sondern oft auch selbstbewusster. Und auch Wahrnehmung, Sprache, Emotion und das Sozialverhalten profitieren. Verfügt ein Kind über gute motorische Fähigkeiten, kann es sich präziser bewegen, das Unfallrisiko wird kleiner, das sportliche Entwicklungspotenzial wird grösser.
Wir Erwachsenen bringen heutzutage Bewegung meist mit Freizeitsport in Verbindung: spazieren, wandern, Velo fahren, im Fitnesszentrum auf dem Crosstrainer schwitzen, mit dem Hund Gassi gehen. Die meisten von uns sitzen beim Arbeiten, viele tippen auf der Computer-Tastatur. Bewegung des ganzen Körpers und Schwitzen heben wir uns für die Freizeit auf. Dabei ist Bewegung in unserem Businessplan zwingend vorgesehen. Unsere Wirbel, Knochen, Sehnen und Gelenke, ja unser ganzer Körper sind fürs Gehen und Rennen, fürs Klettern und Schwimmen, fürs Hüpfen und Springen konstruiert. Früher galt: Ohne Bewegung kein Essen. Essen und Bewegung gehörten unzertrennlich zusammen.
Babys bewegen sich dauernd – oder schlafen
Der Drang sich zu bewegen wird allen Kindern in die Wiege gelegt. Beobachten Sie einmal ein Baby. Entweder schläft es oder es bewegt sich. Dass es einmal ruhig daliegt, kommt eigentlich nur beim Einschlafen und Aufwachen vor. Es strampelt mit den Beinen, versucht die Füsse zu berühren. Es dreht sich auf den Bauch und dann wieder auf den Rücken. Es versucht zu krabbeln, es möchte aufstehen. Es kriecht, rutscht und rollt herum. Es wälzt sich, schaukelt hin und her. Es lernt und übt pausenlos.
Die Hirnstruktur passt sich an und verändert sich
Die Reifung des Gehirns ist bei der Geburt ganz und gar noch nicht abgeschlossen. Ab Geburt bis etwa zum zehnten Geburtstag baut das kindliche Hirn laufend neue Nervenverbindungen auf. In der Fachsprache heisst das Plastizität des Gehirns. Im Gehirn von Kindern werden Bahnen und Verbindungen bedürfnisgerecht angelegt. Bewegungen, die besonders oft abgerufen werden, können so sehr automatisiert werden, dass sie später nie mehr verloren gehen. Denken Sie zum Beispiel an das Velofahren oder den Purzelbaum.
Stimulierung und reichliche Gelegenheiten begünstigen die Bewegungsentwicklung
In einem gesunden Familienumfeld wird die Reifung des Gehirns und die Entwicklung der Koordination von Bewegungen im Säuglings- und Kleinkindesalter automatisch stimuliert. Anleitung dazu brauchen sie kaum. Kinder üben im Spiel und in der Bewegung immer komplexere Muster. Sie erschaffen sich ein Gefühl für die Möglichkeiten ihres Körpers und testen dabei ihre Grenzen. Wenn Kleinkinder zu wenig Gelegenheit bekommen, sich zu bewegen, bleibt die Zunahme der Verschaltungen ungenügend. Für die Koordination gilt noch mehr als für alle anderen Fähigkeiten: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Je umfassender und je breiter sich die Koordination während der Kindheit, vor allem im Vorschulalter, entwickeln kann, desto höher liegt auch die später erreichbare Spitze.
Im Wald finden Kinder was sie brauchen
Bewegungslust kann sich nicht entfalten, wenn der Spielplatz fehlt oder kein Wald in der Nähe ist, wenn also die räumlichen Möglichkeiten für Bewegung und Spiel fehlen. Der Wald ist das ergiebigste Tummelfeld für Kinder, vor allem für Kinder im Vorschulalter. Denn im Wald trainieren Kinder die natürliche Bewegungsvielfalt. Wenn sie auf Bäume klettern, über Stämme balancieren, durch Gebüsche kriechen, eignen sich Kinder eine Vielzahl verschiedenster Bewegungsfertigkeiten an. Wenn sie mit Tannzapfen um sich werfen, dürre Äste zerbrechen, durch schmatzenden Lehm waten oder einen Bach stauen, dann betätigen sich Kinder vielfältig. Lassen Sie zu, dass sich die Kinder aneinander messen, dass sie raufen, ihre Stärken ausprobieren, ihre Schwächen zu überwinden versuchen. Auch ein aufgeschürftes Knie, ein schmerzender Po, eine Beule am Kopf oder dreckige Kleider gehören dazu. Es ist ganz klar, dass Kinder ohne Gefahren nichts lernen. Und wenn sie dann hin und wieder zum Abschluss eines ereignisreichen Tages noch eine Wurst bräteln dürfen, ist das Waldabenteuer perfekt.
Vielleicht können Sie sich ein wenig organisieren. Suchen Sie Gleichgesinnte, wechseln Sie sich ab, verschaffen Sie den Kindern möglichst viele Gelegenheiten für möglichst viel Bewegung. Tag für Tag, bei jedem Wetter. Natürlich wird das zu einer Herausforderung für die Eltern und für alle Betreuungspersonen. Aber der Aufwand lohnt sich. Denken Sie daran: Diese intensive Betreuungszeit ist nach wenigen, kurzen Jahren bereits wieder vorbei. Sie selbst werden aber Ihr ganzes Leben an diese bewegte und stressige Zeit mit viel Wehmut zurückdenken.