Interview mit einer neugeborenen Mama (und ihrem Baby)
Nehmen wir mal an, eine ziemlich neugeborene Mama, ich schätze sie auf etwa 33, wäre so freundlich, mir ein Interview zu gewähren. Nehmen wir weiter an, das Baby der ziemlich neugeborenen Mama wäre in der Lage, seine Sicht der Dinge darzustellen. Das Gespräch verliefe dann wohl etwa so:
"Frau ziemlich neugeborene Mama, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich zu einem Interview zu empfangen..."
Frau znM: "Sie müssen vielmals entschuldigen. Bei mir sieht es ganz furchtbar unordentlich aus. Seitdem die Kleine da ist, komme ich einfach zu nichts mehr."
"Schon okay, ich habe auch Kinder, ich weiss, wie die einem das Leben auf den Kopf stellen."
Frau znM: "Furchtbar, finden Sie nicht auch? Ich meine, natürlich gibt es nichts Schöneres, als so ein kleines Menschlein, aber mir wäre es ganz recht, wenn die Kleine endlich mal durchschlafen würde. Und dann trinkt sie ja auch so langsam. Vor mir türmen sich die Wäscheberge, das Geschirr vom Mittagessen steht noch in der Spüle und ich sitze andauernd auf dem Sofa, um zu stillen...
Baby: "Wäre nett, wenn ich hier vielleicht auch mal etwas sagen dürfte. Mir ist ja klar, dass ich eine ziemlich anspruchsvolle Persönlichkeit bin, aber habt ihr euch schon mal überlegt, wie sehr mein Leben auf den Kopf gestellt worden ist? Von einem Moment auf den anderen wird man aus diesem herrlichen All-Inclusive-Hotel geschmissen und in eine Welt gestellt, in der das Personal keinen Wank tut, wenn man nicht lauthals nach ihm brüllt. Glaubt mir, ich höre die Seufzer sehr wohl. 'Jetzt kommt sie schon zum fünften Mal in dieser Nacht. Ich halte das nicht mehr aus...' Himmel, behandelt man so einen VIP-Gast?"
"Vielen Dank, Baby, dass Sie uns Ihre Sicht der Dinge darlegen. Es ist ja wirklich paradox: Da freut man sich monatelang darauf, das Kind in den Armen zu halten und wenn es endlich da ist, fühlt man sich schnell mal ausgelaugt und überfordert. Woran liegt das Ihrer Meinung nach, Baby?"
Baby: "Ich denke, die sind sich einfach nicht bewusst, was in meiner Welt wirklich zählt. Ist mir doch egal, ob da Geschirr in der Spüle steht oder Wäsche zu waschen wäre. Für mich zählt einzig, dass der tägliche Service tadellos durchgeführt wird und dass Milch und Liebe reichlich fliessen. Alles andere ist mir Schnurz..."
Frau znM: "Das ist es genau, was mich manchmal so an die Grenzen treibt. Ich bin nur noch dazu da, die Bedürfnisse eines kleinen Menschen zu stillen, was ich will - ja, was ich muss - , interessiert keinen mehr. Natürlich habe ich mir sehnlichst Kinder gewünscht und natürlich liebe ich die Kleine über alles, aber für mich war der Wechsel halt auch nicht einfach. Vor ein paar Wochen noch war ich die kompetente Leiterin eines Teams, die alles immer tadellos im Griff hatte und heute muss ich froh sein, wenn ich es zwischendurch mal unter die Dusche schaffe."
"Ich muss schon sagen, Frau znM, Ihre Vehemenz erschreckt mich ein wenig. Sie sagen ja selbst, dass Sie sich sehnlichst Kinder gewünscht haben..."
Frau znM: "Das ist es ja, was auch mich selber so sehr erschreckt. Ich habe mich so auf dieses kleine Wesen gefreut und jetzt mache ich alles vollkommen falsch. Ich will ganz für sie da sein und doch schaffe ich es nicht, ihr zu geben, was sie braucht. (schluchzend) Ich hätte nie gedacht, dass ich eine derart schlechte Mutter sein würde..."
Baby: "Halt, jetzt mal langsam. Für die Bewertung deiner Leistungen bin ja wohl ich zuständig. Ich bin immerhin so etwas wie deine Vorgesetzte. (Baby überlegt einen Moment lang und fährt dann in sachlichem Tonfall fort.) Im Grossen und Ganzen machst du deine Sache ganz gut. Beim Erkennen meiner Bedürfnisse könntest du noch einen Zacken zulegen und an den Tagen, an denen Oma ihren Besuch ankündigt, muss ich jeweils sehr laut werden, ehe du den Putzlappen endlich weglegst, aber ansonsten bist du schwer in Ordnung. Wie du meinen Bauch kitzelst, wenn du mich wickelst. Oder dieser verträumte Blick in deinen Augen, wenn ich an deiner Brust trinke. Oder wie du tapfer auf deinen Kaffee verzichtest, damit ich nicht zu viel Koffein abkriege. Oder deine Schlaflieder..."
Frau znM (immer noch mit Tränen in den Augen, aber sichtlich entspannter): "Ich singe doch katzfalsch..."
Baby: "Mag sein, aber ich liebe es trotzdem, wenn du für mich singst. Und neulich, als die alte Frau im Laden sich über mein Geschrei beklagt hat, hast du dich auf meine Seite gestellt und gesagt, ich könnte halt noch nicht anders, sie solle sich mal auf ihre Manieren besinnen. Das brauchte bestimmt eine schöne Portion Mut..."
Frau znM: "Du meinst, ich mache doch nicht alles falsch?"
Baby: "Alles falsch? Nein, bestimmt nicht. Für mich bist du die beste Mama der Welt. (Baby gähnt) Aber jetzt bin ich müde. Hauen wir uns ein wenig aufs Ohr?"
Frau znM (wirft einen zweifelnden Blick auf das schmutzige Geschirr): "Hmmm, das Geschirr... Ach, was soll's, das läuft mir nicht weg. Okay, wir hauen uns aufs Ohr. Du wirst ja wohl nicht plötzlich den Entschluss gefasst haben, heute Nacht durchzuschlafen, da kann ich einen Mittagsschlaf ganz gut gebrauchen."
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ziehen Frau znM und Baby sich ins Schlafzimmer zurück. Leise, um die beiden nicht zu wecken, mache ich mich aus dem Staub. Ist ja auch höchste Zeit. Zu Hause wartet ein Berg Schmutzwäsche auf mich. Und dieses Interview sollte ganz dringend in die Tasten gehauen werden. Und dann müssen meine Kinder noch... Nein, das Leben wird nicht einfacher, wenn die Kinder grösser sind. Aber immerhin hat man sich an das Chaos gewöhnt.