Das 70% Unternehmen
Interview mit Gabriele Hofmann-Schmid
swissmom: Wie funktioniert das 70% Unternehmen genau?
Gabriele Hofmann-Schmid: Das 70% Unternehmen ist ein Unternehmen, in dem niemand mehr als 70% arbeitet (gemessen an einem 100% Pensum), dies hat aber keinen Einfluss auf die normalen Betriebszeiten, diese bleiben unverändert bestehen.
swissmom: Und das würde wirklich alle Angestellten betreffen, sogar die obersten Führungskräfte?
Gabriele Hofmann-Schmid: Es würde vor allem die obersten Führungskräfte betreffen. Die Idee des 70% Unternehmens ist ja unter anderem, dass niemand diskriminiert wird, weil er oder sie Teilzeit arbeitet oder arbeiten möchte. Heute ist es in aller Regel doch so, dass es fast unmöglich ist, als blosser Teilzeiter Karriere zu machen und eine Führungsposition einzunehmen.
Dr. Gabriele Hofmann-Schmid war über fünfzehn Jahre im Topmanagement internationaler Grossunternehmen tätig als Chief Legal Officer, Compliance Officer, Leiterin Rechtsabteilung und Generalsekretärin des Verwaltungsrates. Ihre aktuelle Firma Legal Coaching bietet Rechtsberatung, Coaching und weitere Dienstleistungen wie Customer Satisfaction Surveys für Kanzleien und Unternehmensberater und unterstützt Firmen und Einzelpersonen bei der kosteneffizienten Instruktion von Anwälten. Ausserdem ist Gabriele Hofmann-Schmid die Autorin von „Best Mama“ (www.bestmama.ch) und arbeitet zurzeit am Buch „Das 70% Unternehmen“, um welches es in diesem Interview geht. Sie hält Impulsreferate und begleitet Unternehmen bei der Umsetzung von Teilzeitmodellen. Sie ist Mutter von drei Kindern im Alter von 6 bis 17 Jahren.
swissmom: Gibt es in der Schweiz bereits Firmen, welche Ihr Modell anwenden, oder sich dafür interessieren, es in naher Zukunft umzusetzen?
Gabriele Hofmann-Schmid: Das Projekt ist neu und das Buch zum 70% Unternehmen erst im Entstehen begriffen. Aber ich suche jetzt ein Partnerunternehmen, das bereit ist, das 70% Modell umzusetzen. Ich denke da an ein Unternehmen, das ohnehin vor einer Umstrukturierung oder einer Reorganisation steht, oder das gerade eine neue Einheit aufbaut. Man kann das Modell auch erst einmal in einer einzelnen Abteilung umsetzen. Voraussetzung ist jedoch in jedem Fall, dass der Geschäftsführer ebenfalls auf 70% reduziert, um den nötigen Rückhalt zu gewährleisten und eine Vorbildfunktion einzunehmen. Wenn Sie erlauben, dann nutze ich diese Plattform gern und appelliere an interessierte Unternehmen, sich bei mir zu melden! Die ersten Firmen, die das 70% Model umsetzen werden, dürfen sicher mit einem positiven Publizitätseffekt rechnen. In der Mai Ausgabe der Schweizer Familie ist gerade ein Artikel zum 70% Unternehmen erschienen und das Echo war enorm. Das zeigt das dringende Bedürfnis nach neuen Modellen.
swissmom: Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung des 70% Unternehmens?
Gabriele Hofmann-Schmid: Das grösste Hindernis, das der Umsetzung des 70% Unternehmens tatsächlich im Wege steht, ist unser Denken. Wir sind in der Vorstellung verhaftet, die besten und wertvollsten Mitarbeitenden seien jene, die sich selbst und ihre Zeit, am besten rund um die Uhr, bedingungslos in den Dienst des Unternehmens stellen und fortan jegliche privaten Bedürfnisse den Bedürfnissen des Unternehmens hintanstellen. Das sind die Leute, die man auf der Karriereleiter berücksichtigt oder denen man die anspruchsvollen Jobs anvertraut. Während die Teilzeitarbeit bei Frauen recht gut akzeptiert ist, ist sie bei einem Mann immer noch suspekt. Wenn man wirklich will, ist die Umsetzung des 70% Unternehmens nur eine technisch operative Frage, die mit der richtigen Organisation gelöst werden kann. Immerhin möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass es nicht meine Absicht ist, dass es in Zukunft nur noch 70% Unternehmen geben soll. Aber es soll sie eben auch geben. Wenn man eine neue Idee propagieren will, muss man mit einem klaren Bild auftreten. Wenn ich schon von Anfang an Kompromisse zugestehe, bleibt alles beim Alten. Diese Kompromisse werden von ganz allein kommen, und das ist auch völlig okay.
swissmom: Sie vertreten die These, dass Teilzeitmitarbeiter effizienter arbeiten. Viele sind hingegen der Meinung, Teilzeitmitarbeiter seien nie da, wenn sie gebraucht werden. Was sagen Sie dazu?
Gabriele Hofmann-Schmid (lacht): Da erlaube ich mir zuerst einmal die Gegenfrage, wie es denn mit der Verfügbarkeit der Vollzeiter steht, wenn sie in Sitzungen, auf Geschäftsreise, krank (Burnout!) oder in den Ferien sind…? Oder wie steht es mit den Geschäftsleitungsmitgliedern, die noch Mandate in anderen Vereinen oder Verwaltungsräten haben? De facto arbeiten diese für das Unternehmen, in dem sie angestellt sind, letztendlich auch nur Teilzeit. Und doch läuft der Laden in all diesen Fällen auch weiter – hoffentlich auch, sonst wäre er schlecht organisiert. Aber zurück zur Frage: Teilzeitmitarbeiter sind insofern effizienter, als sie die tatsächliche Arbeit in der gegeben Zeit erledigen. Die Pflege des Netzwerks oder Arztbesuche erledigen sie in ihrer Freizeit und nicht während der Arbeitszeit. Man ist auch einfach motivierter und hat mehr Energie, wenn man nicht von morgens bis abends fünf Tage die Woche im Büro sein muss. Und die Frage der Verfügbarkeit für andere Arbeitskollegen ist, wie schon erwähnt, nur eine Frage der richtigen Organisation.
swissmom: Inwiefern würde das 70% Unternehmen einen Einfluss auf die – sagen wir mal – schwierige Situation mit den Krippenplätzen in der Schweiz haben? Würden nicht noch mehr Krippenplätze gebraucht, wenn beide Elternteile erwerbstätig wären, wenn auch nur mit reduziertem Pensum?
Gabriele Hofmann-Schmid: Der Ursprung der Idee des 70% Unternehmens gründet in der Vorstellung, dass Mann und Frau auch nach der Gründung einer Familie weiterhin ein völlig gleichberechtigtes Leben sollen führen können. Statt dass sich der eine Partner, in aller Regel der Mann für Beruf und Karriere entscheidet und die Frau sich fortan um Kinder und Haushalt kümmert, sollen beide beides machen: Sie sollen beide Ihren Job auf 70% reduzieren und sie sollen sich beide um die Kinder kümmern. Mathematisch gesehen braucht es dann nur noch an zwei Tagen eine Fremdbetreuung. Mit flexiblen Arbeitszeiten und/oder Homeoffice können sogar diese Tage überbrückt werden, vor allem ab dann, wenn die Kinder in den Kindergarten gehen. Insofern bringt das 70% Modell eher eine Entlastung für die Situation der mangelnden Kindertagesstätten und es schiebt vor allem nicht der Mutter die Schuld zu, dass die Kinder fremdbetreut werden müssen „weil sie sich beruflich verwirklichen will“.
swissmom: Welchen Einfluss könnte das 70% Unternehmen auf die Scheidungsproblematik und Sorgerechtsfragen haben?
Gabriele Hofmann-Schmid: Neuste Statistiken zeigen in der Schweiz und in den umliegenden Ländern eine Scheidungsrate zwischen 30% und 50%, je nach Berechnungsweise. Interessanterweise ist die Scheidungsrate bei Ehen, in denen beide Partner berufstätig sind, niedriger als bei solchen mit der klassischen Aufgabenteilung.
Eine Scheidung ist in aller Regel sehr belastend für alle Beteiligten. Neben den emotionalen Faktoren kommen oft finanzielle Probleme und Existenzängste hinzu, weil das vorhandene Geld nicht für zwei Haushalte reicht. Beide Partner fühlen sich benachteiligt: Der Mann, weil er je nach Situation und Urteil Unterhaltszahlungen für die (Ex)frau leisten muss, die Frau, weil die Unterhaltszahlungen ungenügend sind und sie zwingen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, was je nach Alter, Ausbildung oder mangelnder Berufserfahrung sehr schwierig sein kann.
Das Problem entschärft sich, wenn beide Partner sich ihrer Ausbildung und ihrer Karriere gewidmet haben. Die Frau fühlt sich selbstsicherer und gewappnet, ihr Leben auch allein im Griff zu haben und der Mann leidet nicht oder zumindest weniger unter der Last von Unterhaltszahlungen. Hat sich der Mann während der Ehe gleichberechtigt in die Sorge um die Kinder eingebracht, sollte das gemeinsame Sorgerecht dann in aller Regel die natürliche Weiterführung der bisherigen Aufgabenteilung sein.
swissmom: Ist das 70% Unternehmen nur attraktiv für Familien mit Kindern? Wie können alleinstehende oder ältere Arbeitnehmer, deren Kinder schon aus dem Haus sind, davon profitieren?
Gabriele Hofmann-Schmid: Seit ich das Buch schreibe, spreche ich die unterschiedlichsten Menschen auf die Frage der Teilzeitarbeit an und bin immer wieder erstaunt, wie gross die Zahl jener ist, die zugunsten von mehr Freizeit und Lebensqualität gerne auf einen Teil des Gehalts verzichten würden, es in ihrem derzeitigen Job aber einfach nicht können. Auch die neue Generation der Berufseinsteiger ist nicht mehr einfach nur mit hohen Salären zu locken. Persönlicher Freiraum und flexible Arbeitsmodelle sind wichtiger. Es geht ja auch nicht darum, in den gewonnen 30% nur auf „der faulen Haut“ zu liegen – obwohl auch das seine Berechtigung haben mag – sondern etwas anderes zu tun, das einem Spass macht: eine Zweitausbildung, eine kleines Restaurant oder eine Bar aufmachen, ein eigenes Geschäft aufbauen, Malen, Musizieren - vielleicht als Hobby, vielleicht als Zusatzverdienst. Was die älteren Menschen angeht, so könnten diese den Part der 30% übernehmen. Depression nach der Pensionierung ist genau so aktuell wie Burnout. Da ist es doch viel sinnvoller, die einen reduzieren auf 70% und die anderen übernehmen die 30%. Dies wäre auch ideal für den Know How Transfer. Erfahrene Mitarbeitende könnten ihr Wissen über einen längeren Zeitraum an ihre Nachfolger übergeben.
swissmom: Möchten Sie mit Ihrem Buch auch eine politische Diskussion anheizen? Oder hatte Ihre Theorie vielleicht sogar schon einen Einfluss auf die Politik?
Gabriele Hofmann-Schmid: Wie gesagt, das Projekt ist noch neu, aber ich möchte auf jeden Fall die Diskussion mit neuen Ideen beleben. Die Diskussion dreht sich im Kreis: Frauenförderung, Frauenquote, Kindertagesstätten, Gleichberechtigung… Das System krankt nicht an der Tatsache, dass Frauen zu wenig gefördert werden, es krankt an der Tatsache, dass Männer im Job nicht für voll genommen werden, wenn sie sich die Kinderbetreuung und den Haushalt mit der Partnerin teilen wollen. In meinem Blog auf www.70pro.ch gibt es hierzu ein paar bezeichnende Berichte. Dabei ist genau das das Natürlichste der Welt. Sehen Sie doch: Jungen und Mädchen gehen gemeinsam zur Schule, wachsen gemeinsam auf, als Jugendliche gehen sie zusammen in den Ausgang, machen gemeinsam ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Schliesslich erlernen sie einen Beruf und treten – noch immer gleichberechtigt – in die Erwerbswelt ein. Und dann kommt der Schnitt: Sie gründen gemeinsam eine Familie. Auf einmal driften die Arbeitswelten auseinander. Und mit ihnen die Gleichberechtigung. Das ist das Problem – und genau hierfür bietet das 70% Unternehmen Abhilfe.
swissmom: Zu guter Letzt: Wann wird das Buch erscheinen und wo wird es erhältlich sein?
Gabriele Hofmann-Schmid: Geplant ist, dass es noch in diesem Jahr erscheint. Wie auch „Best Mama“ wird man es im Buchhandel und bei den gängigen Online Anbietern beziehen können.
Weitere Infos unter www.70pro.ch