Elternangst: Eine Anleitung fürs Loslassen
Dass Eltern sich um das Wohlergehen ihrer Kinder sorgen und zuweilen auch Angst haben, lässt sich nicht verhindern. Immerhin tragen Mütter und Väter die Verantwortung für unendlich kostbare kleine Menschen. Es ist daher niemandem geholfen, wenn man sich über "Helikoptereltern" lustig macht. Zumal sich die Furcht nicht einfach auf Knopfdruck ausschalten lässt, bloss weil jemand sagt, man solle die Dinge etwas gelassener sehen. Trotzdem sollten Eltern der Angst nicht das Kommando in der Erziehung überlassen, denn sie ist meist eine schlechte Ratgeberin. Im Folgenden einige Anregungen, wie Sie Herausforderungen anders angehen können.
Messer, Gabel, Schere, Licht...
Tatsache: Beim Umgang mit gefährlichen Gegenständen wie Messer und Scheren können Kinder sich verletzen. Es kommt nicht von ungefähr, dass das oben zitierte Sprichwort weitergeht mit: "...sind für kleine Kinder nicht."
Die Angst rät: Schliesse alles weg, was gefährlich ist und sorge dafür, dass das Kind nie damit in Berührung kommt.
Warum Sie nicht auf die Angst hören sollten: Der Umgang mit gefährlichen Gegenständen will gelernt sein. Die Gefahr, sich zu verletzen, ist viel grösser, wenn man nicht geübt ist.
- Lassen Sie Ihr Kind mit speziell für Kinder gefertigten Werkzeugen üben, ehe es mit "richtigen" Messern, Scheren, etc. hantieren darf.
- Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, bei vielen Tätigkeiten im Haushalt zu helfen und machen Sie es dabei auf den korrekten Umgang mit verschiedenen Werkzeugen aufmerksam.
- Übertragen Sie Ihrem Kind immer mehr Aufgaben, zum Beispiel das Schälen von Karotten mit dem Sparschäler oder das Einschlagen eines Nagels. Sie werden sehen, dass Ihr Kind viel geschickter ist, als Sie gedacht hätten.
- Kleine Missgeschicke gehören zum Lernprozess und haben in der Regel keine schlimmen Folgen. Im Gegenteil, sie bewirken meist, dass das Kind beim nächsten Mal vorsichtiger ist.
- Wenn es Ihnen schwer fällt, das Kind machen zu lassen, kann es sinnvoll sein, wenn jemand anders mit ihm solche Aufgaben erledigt.
- Versorgen Sie gefährliche Gegenstände so, dass Ihr Kind sie nicht selber holen und ohne Aufsicht benützen kann.
Loslassen will geübt sein
Tatsache: Ihr Kind bedeutet Ihnen unendlich viel und Sie möchten auf gar keinen Fall, dass ihm etwas zustösst.
Die Angst rät: Lass dein Kind nie aus den Augen, begleite es überall hin und bleibe stets eng an seiner Seite, wenn es etwas Neues wagt.
Warum Sie nicht auf die Angst hören sollten: Ihr Kind muss schrittweise lernen, sich ohne elterliche Begleitung in verschiedenen Situationen zurecht zu finden. Je grösser es wird, umso mehr will es seine eigenen Erfahrungen machen dürfen. Auch für Sie ist es wichtig, nach und nach wieder mehr Freiräume zu gewinnen, um beruflich oder in der Freizeit Neues wagen zu können. Hinzu kommt, dass die ständige Anwesenheit von Eltern weder in der Schule noch bei Freizeitaktivitäten besonders geschätzt wird.
- Lernen Sie Betreuungspersonal, Lehrpersonen und Leiter von Freizeitangeboten kennen. Wenn Sie ihnen vertrauen, fällt es Ihnen leichter, Ihr Kind in ihrer Obhut zu lassen.
- Planen Sie eigene Aktivitäten ein, wenn Ihr Kind etwas los hat. So kommen Sie gar nicht erst in Versuchung, die ganze Zeit an seiner Seite zu bleiben. Beispiel: Machen Sie Besorgungen, wenn Ihr Kind im Schwimmkurs ist. Die Schwimmlehrerin und ihre Begleitpersonen sind dazu ausgebildet, auf die Sicherheit der Kinder zu achten. Sie brauchen also nicht voller Sorge am Beckenrand zu sitzen.
- Bleiben Sie auf dem Spielplatz nicht immer an der Seite Ihres Kindes, sondern wechseln Sie auf die "Zuschauerbank". Gute Spielplätze sind so eingerichtet, dass Kinder Neues wagen können, ohne sich in grosse Gefahr zu begeben.
- Falls es trotzdem mal gefährlich wird: Seien Sie zurückhaltend mit Warnungen wie "Pass auf! Sei vorsichtig!" Das verunsichert das Kind nur. Besser ist es, ruhig zu bleiben und dem Kind beizustehen, damit es selber einen sicheren Ausweg aus der Situation findet.
- Muten Sie Ihrem Kind und sich selber nicht zu viel auf einmal zu, wenn es ums Loslassen geht. Vergrössern Sie den Radius, in dem sich Ihr Kind alleine bewegen darf, schrittweise. Treffen Sie klare Abmachungen und bestehen Sie darauf, dass sie eingehalten werden. So wächst ganz allmählich das Vertrauen, dass das Kind seinen Weg schon machen wird.
- Wenn es in Ihrem Quartier wenig Raum gibt, wo Kinder auf eigene Faust die Welt entdecken können: Warum nicht gemeinsam mit anderen Eltern eine Initiative für kindergerechte Freiräume starten?
Man hört ja so viel Schlimmes...
Tatsache: Absolute Sicherheit gibt es nicht.
Die Angst rät: Bloss kein Risiko eingehen! Lass dein Kind gar nicht erst in Situationen kommen, in denen etwas schief gehen könnte.
Warum Sie nicht auf die Angst hören sollten: Ein von der Angst bestimmtes Leben wird für alle Beteiligten ziemlich ungemütlich. Früher oder später werden Sie überall nur noch Gefahren sehen und Ihr Kind wird kaum mehr Freiräume haben, die Welt zu entdecken, einen zweiten Anlauf zu nehmen, wenn etwas misslingt und Hindernisse zu überwinden. Damit ist es schlecht gerüstet, die verschiedenen Herausforderungen zu meistern, die das Leben mit sich bringt.
- Lernen Sie, Risiken richtig einzuschätzen. Viele gut informierte Menschen machen sich grosse Sorgen, obschon in vielen Fällen das Risiko, zu den Betroffenen zu gehören, verschwindend klein ist.
- Seien Sie Ihrem Kleinkind immer einen Schritt voraus, denn vor allem in den ersten zwei Lebensjahren lernt es fast jeden Tag etwas Neues hinzu. Wenn Sie Gefahren im Haushalt bereits im Voraus aus dem Weg räumen, lassen sich viele Unfälle vermeiden.
- Werden Sie handlungsfähig, indem Sie sich Wissen über Erste Hilfe, Hausmittel und die Versorgung von kleinen Wunden aneignen. So fühlen Sie sich der Situation nicht hilflos ausgeliefert, wenn mal etwas passiert. Bitten Sie die Kinderärztin oder den Kinderarzt um Tipps, woran Sie erkennen können, ob Ihr Kind ärztliche Behandlung braucht.
- Grundsätzlich ist es wichtig, gut informiert zu sein. Wenn Sie aber rundum nur noch Gefahren sehen, kann es sinnvoll sein, eine Auszeit von Medienberichten und Sicherheitshinweisen zu nehmen
- Legen Sie den Erziehungsratgeber beiseite, gehen Sie raus und erleben Sie etwas mit Ihrer Familie. Sie werden staunen, wie gut Ihr Kind in den verschiedensten Situationen zurecht kommt, wenn es erst mal die Gelegenheit dazu bekommt.
- Wenn Sie merken, dass Sie alleine nicht fertig werden mit der Angst, kann es sinnvoll sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies dient nicht nur Ihnen, sondern auch Ihrem Kind, denn die Ängste von Eltern übertragen sich oft auf die Kinder.
Komm, ich fahr dich doch schnell
Tatsache: Viele Schulwege sind nicht ganz ungefährlich. Da sind einerseits die Gefahren des Strassenverkehrs. Andererseits kann es auch immer mal wieder zu Konflikten kommen.
Die Angst rät: Fahr dein Kind mit dem Auto zur Schule, dann kann ihm auch ganz bestimmt nichts zustossen.
Warum Sie nicht auf die Angst hören sollten: Dem Kind entgeht so die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen unterwegs zu sein, Freundschaften zu vertiefen und kleine Abenteuer zu erleben. Natürlich gibt es auch mal Streit, aber auch hier gilt: Kinder müssen lernen, mit solchen Herausforderungen umzugehen. Auch aus Rücksicht auf die Sicherheit der anderen Kinder sollten Sie das Auto in der Garage lassen. Mit den vielen Elterntaxis, die zum Unterrichtsbeginn und -ende bei der Schule vorfahren, steigt die Unfallgefahr.
- Machen Sie Ihr Kind von klein auf mit dem korrekten Verhalten im Strassenverkehr vertraut. Zuerst, indem Sie ihm die Einhaltung der Verkehrsregeln vorleben. Später dann, indem Sie es dazu anleiten, die Regeln selber zu befolgen.
- Vor Schuljahresbeginn: Üben Sie den Kindergarten- und Schulweg mit Ihrem Kind und zeigen Sie ihm, wie es sich in den unterschiedlichen Situationen richtig verhält.
- Nach Schuljahresbeginn: Begleiten Sie Ihr Kind in den ersten Wochen zu Fuss und üben Sie das schrittweise Loslassen, indem Sie immer weniger weit mitgehen.
- Ermutigen Sie Ihr Kind, immer in einer Gruppe mit anderen Kindern zu gehen. Bei langen, gefährlichen Wegen kann es sinnvoll sein, wenn die Gruppe über einige Zeit von einer erwachsenen Person begleitet wird. Wenn Sie sich diesen Begleitdienst mit anderen Eltern teilen, bringt dies auch eine zeitliche Entlastung für Sie.
Was wird die Zukunft bringen?
Tatsache: Die Zukunft steckt voller Ungewissheiten. Wir wissen nicht, was unsere Kinder dereinst können müssen, um in einer sich rasant verändernden Welt bestehen zu können.
Die Angst rät: Bloss nichts verpassen! Sorge dafür, dass dein Kind in allen Bereichen zu den Besten zählt. Nur so hat es später eine Chance.
Warum Sie nicht auf die Angst hören sollten: Wenn Ihr Kind überall erfolgreich sein soll, lastet ein unglaublicher Druck auf ihm - und auf Ihnen. Die Zeit, einfach mal unbeschwert zu sein, geht verloren, im schlimmsten Fall leidet auch die Eltern-Kind-Beziehung. Und was, wenn das Kind die hohen Ziele nicht erreicht? Hat es dann im Leben versagt?
- Achten Sie darauf, was Ihrem Kind Freude macht und wo es stark ist. Geben Sie ihm Gelegenheit, diese Stärken auszuleben und in den Bereichen besser zu werden, in denen es besser werden will. Die Lernstrategien, die es sich dabei aneignet, können ihm später auch dort helfen, wo es weniger stark ist.
- Schulwissen ist nicht alles. Wer im Leben vorankommen will, braucht auch soziale und emotionale Kompetenzen. Unter Umständen lernt ein Kind, das in der Pfadi mitmacht und später selber eine Gruppe leitet, mehr fürs Leben als eines, das immer nur Bestnoten nach Hause bringt.
- Nehmen Sie Abstand von der Vorstellung, dass Ihr Kind alles können muss, denn diesen Anspruch kann kein Mensch erfüllen. Es ist für ein Kind äusserst entmutigend und schmerzhaft, wenn es den Ansprüchen seiner Eltern nie genügen kann.
- Werfen Sie einen Blick in den Spiegel: Bin ich so erfolgreich im Leben, wie ich es von meinem Kind erwarte? Wenn nicht, warum halte ich es für so erstrebenswert, dass mein Kind zum Überflieger wird, der alle anderen weit hinter sich zurücklässt?