Geburtsverarbeitung
Interview mit Brigitte Meissner
swissmom: Frau Meissner, Sie haben das Netzwerk Verarbeitung Geburt gegründet. Warum? Was waren Ihre Beweggründe dazu und wie stiessen Sie auf diese Thematik?
Brigitte Meissner: In meiner Arbeit als Hebamme, vor allem in der Nachbetreuung von Frauen zu Hause, also im Wochenbett, stiess ich immer wieder auf deren tiefen Gefühle der Enttäuschung und des Alleinseins, wenn diese eine für sie enttäuschende, schwere oder sogar traumatische Entbindung erlebt hatten. Oder auch auf das für die Frauen manchmal nicht verdaubare Trauma, z. Bsp. nach hochakuten Notfallsituationen, welches sie noch wochen-, monate- und sogar auch jahrelang beschäftigen und in ihrem Lebensgefühl und der Bindung zum Kind belasten kann. Trotz meiner Bücher und dadurch erhöhter Medientätigkeit rund um diese Themen, ist ein belastendes Geburtserlebnis immer noch ein recht grosses Tabu. Durch die Gründung des Netzwerks wollte ich allen Frauen gesamtschweizerisch die Möglichkeit vermitteln, dass es gut und legitim ist, über diese Gefühle sprechen zu wollen, dass die Frauen nicht alleine sind damit, dass es hier einige Gleichfühlende gibt, sonst gäbe es ja das Netzwerk nicht! Ich bin überzeugt: Öffentlichkeit löst Tabus aus ihrer Heimlichkeit und Versenkung.
Brigitte Renate Meissner ist Buchautorin, Hebamme, Krankenschwester und Craniosacral-Therapeutin. Sie hat eine eigene Praxis in Brugg (AG) und ist Gründerin des Netzwerk Verarbeitung Geburt www.geburtsverarbeitung.ch.
swissmom: Welche Hilfestellung können Frauen oder Paare erwarten, wenn sie bewusst ein für sie schwer zu integrierendes Geburtserlebnis mit Begleitung verarbeiten möchten? Welche Rolle spielt hier das Netzwerk?
Brigitte Meissner: Die Thematik der einfühlsamen Begleitung in der Verarbeitung eines enttäuschenden Geburtserlebnisses wurde ein Schwerpunkt meiner Autorentätigkeit und in meiner Praxis. Da ich fest davon überzeugt bin, dass gerade Hebammen sich besonders gut eignen, um Frauen in diesem wichtigen und sensiblen Prozess zu begleiten, entstand bei mir die Idee zum Netzwerk im Austausch mit Hebammenkolleginnen, die wie ich auch schon unabhängig dasselbe Thema aufgegriffen hatten und Frauen oder Paare im Verarbeiten begleiteten. Die Idee ist, dass so Frauen schweizweit über Internet auf die Adressliste der angeschlossenen Hebammen Zugriff haben und in ihrer Nähe eine spezialisierte und kompetente Fachfrau zur Begleitung für sich und ev. auch ihren Partner finden.
swissmom: Weshalb finden Sie, dass sich vor allem Hebammen für diese Art der Verarbeitungshilfe eignen? Und gibt es bestimmte Aufnahmekriterien für das Netzwerk, oder kann sich jede Hebamme auf die Adressliste eintragen lassen?
Brigitte Meissner: Meine Kolleginnen und ich waren uns einig: Wer weiss mehr Bescheid über das was und wie abläuft in den Gebärzimmern als wir Fachfrauen? Aber eine grundlegende Bedingung war und ist trotz allem, dass es Hebammen sein müssen, die durch entsprechende Weiterbildungen mit psychologischen Prozessen vertraut sind und die Mechanismen von Traumata verstehen. Das heisst also, dass jede Hebamme auf dem Netzwerk in verschiedenen psychologischen Richtungen spezialisiert oder aus- und weitergebildet ist. Diese auf Vorsicht und Respekt basierende Qualitätssicherung im psychischen Bereich, welche das Netzwerk Verarbeitung Geburt als Bedingung erhebt, haben Paare und Frauen nicht, wenn sie bei irgendeiner freischaffenden Hebamme in die Verarbeitung gehen. Alle Hebammen, die freischaffend Frauen im Wochenbett nach der Spitalentlassung begleiten, helfen natürlich schon sehr oft, die verschiedensten Erlebnisse zu integrieren und zu verarbeiten. In vielen Fällen reicht diese menschliche, einfühlsame Begleitung – in manchen aber auch nicht!
swissmom: Welche zusätzlichen oder speziellen Ausbildungen bringen die im Netzwerk vertretenen Hebammen mit?
Brigitte Meissner: Auf jeden Fall sind es Frauen mit mehreren Jahren Berufserfahrung sowohl im Gebärsaal als auch in der Begleitung im Wochenbett zu Hause und es sind häufig auch erfahrene Kursleiterinnen. Ausserdem haben meine Kolleginnen und ich ergänzend dazu verschiedene Zusatzausbildungen absolviert, wie spezielle Traumaverarbeitungstechniken oder Körperpsychotherapeutische Ansätze und Prozessarbeit, Craniosacral-Therapie etc.
swissmom: Wie merkt eine Frau, dass sie noch weitere Hilfe in Anspruch nehmen sollte?
Brigitte Meissner: Die Gespräche im Wochenbett mit der freischaffenden, aber nicht spezialisierten Hebamme oder mit Freundinnen, Partner etc. waren und sind sehr oft dann noch nicht genug, wenn eine Frau merkt, dass sie immer wieder Energie verliert, die Beziehung zum Kind oder sogar zum Partner belastet wird, weil ihre Gedanken immer wieder um das Erlebte kreisen, sie deswegen emotional und stimmungslabil ist – dann ist es sicher angezeigt, wenn sie weitere Hilfe sucht. Und wenn sie weiterhin auch körperliche Symptome zeigt, die auf eine noch nicht verarbeitete Geburtsgeschichte hinweisen. Dies gilt natürlich für alle Schockerlebnisse, die Menschen in ihrem Leben erfahren, auch dann sollte psychologische Hilfe eingezogen werden. Hier beziehen wir uns einfach v.a. auf die Geburtsverarbeitung.
swissmom: Wie kann sich ein nicht verarbeitetes Geburtserlebnis denn körperlich oder psychisch noch äussern? Und welche Vorteile haben Frauen, wenn sie sich den alten Erlebnissen stellen?
Brigitte Meissner: Vieles läuft über Körperpsychotherapeutische Ansätze, wenn man vergangene Schocks erkennen und auflösen möchte, weil Trauer, Ängste und Panikzustände ja in unserem Körper wie eingespeichert werden. Wenn sie nicht herausgelöst und verabschiedet und womöglich mit einem neuen Gefühl der Entspannung oder Liebe ersetzt werden, kommen sie immer wieder „hoch“. Das äussert sich zum Beispiel darin, dass eine Frau, immer wieder Herzklopfen bekommt, kaum schlucken kann oder eine Schwäche in Händen oder Füssen verspürt, wenn sie an dem betreffenden Spital vorbeifährt, wo sie die dramatische Geburt erlebte. Eindeutige Zeichen, dass ihr Schock noch im Körper festsitzt. Oder die entsprechenden Symptome zeigen sich, wenn eine Frau von einer Kollegin hört, dass diese schwanger ist oder gerade geboren hat – manche betroffene Frau bricht dann in Tränen aus, weil es sie daran erinnert, was sie erlebt hat, oder eben nicht so erlebt hat, wie sie es sich gewünscht hat. Oder eine Frau wünscht sich vielleicht bewusst oder unbewusst noch ein Kind, verzichtet aber lieber darauf weil sie sonst nochmals eine Geburt konfrontieren muss – oder möchte gleich einen Wunschkaiserschnitt. Alles Zeichen, dass noch einiges Unverarbeitetes brachliegt, was gelöst werden könnte und der Frau damit auch ein Stück mehr Lebensqualität zurückbringen kann und wird. Alle Frauen, die den Weg der bewussten Verarbeitung gehen, sind erstaunt, wie viel freier und fröhlicher sie werden und auch wie sehr sich oft die Beziehung zum Kind vertieft. Alles wunderbare Argumente, sich auf den Weg zu machen!!
swissmom: Können Sie eine ungefähre Angabe machen, mit wie vielen Sitzungen eine Frau rechnen muss, damit sie „gelöster oder beschwerdefrei“ ist? Und zahlt die Krankenkasse diese Sitzungen, bzw. Gespräche?
Brigitte Meissner: Nähere Details sind auf der Webseite www.geburtsverarbeitung.ch angegeben. Aber das Wichtigste in Kürze ist, dass die Krankenkassen bis jetzt nichts an die Geburtsverarbeitung zahlen, mit wenigen Ausnahmen. Wenn diese in der Schwangerschaft oder noch im regulären Wochenbett geschieht, so wird eine Hebamme abrechnen können. Die Frauen müssen die Sitzungen also meistens selber zahlen, der Erfahrungswert zeigt aber, dass der Durchschnitt bei etwa 2 bis 5 Besuchen liegt. Dies liegt also sehr wohl im zahlbaren Bereich und wiegt die zumeist ausgeprägt erhöhte und befreite Lebensqualität und Freude für die meisten Frauen und Paare bei weitem auf.