Bye Bye, Baby? - Über den Wettlauf gegen die biologische Uhr
Experteninterview mit Annette Wirthlin
swissmom: Wir leben in einer Gesellschaft, in der man ziemlich offen über persönliche Themen spricht. Warum fällt es vielen Frauen dennoch schwer, über ihren unerfüllten Kinderwunsch zu reden?
Annette Wirthlin: Dieses Thema ist in unserer Gesellschaft tatsächlich noch stark tabuisiert, vielleicht, weil es so eng mit dem Körper und der Sexualität verknüpft ist. Ausserdem wird Kinderkriegen als die natürlichste Sache der Welt angesehen, die einfach jeder "kann". Wenn es dann aus biologischen Gründen nicht zu einer Schwangerschaft kommt, beginnen viele Betroffene zu zweifeln: "Warum geht das bei mir nicht? Bin ich denn etwa keine richtige Frau, wenn ich das Natürlichste im Leben nicht hinkriege?" Und es gibt ja nicht nur biologische Gründe. Es kann auch sein, dass der Partner keine Kinder haben will, oder zu den Kindern aus einer früheren Partnerschaft keine weiteren bekommen möchte. Vielleicht ist auch gar kein Partner da, der mit einem die Verantwortung für ein gemeinsames Kind tragen möchte. Zu sagen: "Es gelingt mir nicht, einen Partner zu finden, der mit mir Kinder haben will", fällt sehr schwer.
In Ihrem Buch "Bye Bye, Baby? - Frauen im Wettlauf gegen ihre biologische Uhr" stellt Annette Wirthlin acht Frauen mit (noch) unerfülltem Kinderwunsch vor. Gespräche mit Experten aus verschiedenen Fachrichtungen liefern ergänzende Fakten und Denkanstösse zum Thema "Kinderwunsch".
swissmom: Die Gesellschaft hält sich ja auch nicht gerade zurück mit Vorurteilen gegenüber Frauen, die kurz vor 40 noch ihren Kinderwunsch verwirklichen möchten.
Annette Wirthlin: Frauen, die in diesem Alter versuchen, noch Mutter zu werden, machen oft die Erfahrung, dass sie belächelt werden. Sie gelten als die "Verzweifelten", die es karrierebedingt lange versäumt haben und jetzt unbedingt noch ein Kind haben wollen, bevor es zu spät ist. Versucht eine Frau, auf unkonventionellem Weg Mutter zu werden, weil sie zum Beispiel den richtigen Partner nicht gefunden hat, wirft man ihr schnell einmal Egoismus vor. Eine Frau, die mit 25 ganz problemlos und vielleicht sogar ungeplant schwanger wird, muss sich dafür kaum rechtfertigen. Frauen aber, die in etwas fortgeschrittenerem Alter noch zu ihrem Kinderwunsch stehen, müssen sich überall erklären. Es ist einfach, zu sagen: "Was will die jetzt noch mit einem Kind? Die arbeitet doch so viel." Dass die Frau vielleicht liebend gerne weniger arbeiten würde, um sich einem Kind zu widmen, sieht man nicht.
swissmom: Das Thema "Kinderwunsch" steht manchmal wie eine unsichtbare Wand zwischen Müttern und kinderlosen Frauen. Es fällt schwer, unbefangen darüber zu reden. Warum?
Annette Wirthlin: Wer von dem Thema nicht betroffen ist, kann sich nur schwer vorstellen, welche Leidensgeschichten hinter einem unerfüllten Kinderwunsch stehen können. Wenn eine Frau ihre Scham überwindet und über ihren Schmerz redet, dann vermutlich lieber mit jemandem, der in einer ähnlichen Situation ist. Junge, glückliche Mütter haben ja genau das, was ihr fehlt. Sogar der blosse Anblick eines schwangeren Bauches kann bisweilen als persönliche Kränkung erfahren werden. Die Frauen in meinem Buch berichten davon, wie sie aus Selbstschutz den Kontakt zu glücklichen Familien meiden, auch wenn sie sich eigentlich gerne an den Kindern der anderen freuen und mit ihnen etwas unternehmen möchten.
swissmom: Wie kann diese unsichtbare Wand zwischen kinderlosen Frauen und Müttern durchbrochen werden?
Annette Wirthlin: Ich behaupte nicht, dass alle Frauen, die Kinder haben, mit dem Thema "Kinderwunsch" unsensibel umgehen, aber es gibt halt doch diese Mütter, die nicht merken, wie verletzend ihre Aussagen sein können. Eine Mutter, die zu einer Frau mit unerfülltem Kinderwunsch sagt: "Sei froh, dass du keine Kinder hast. Ich musste heute Nacht dreimal aufstehen. Du hast es gut, du kannst durchschlafen", ist sich nicht bewusst, dass die andere Frau nur zu gerne dreimal in der Nacht aufstehen würde, wenn sie nur das Kind hätte, das sie sich so sehr wünscht. Fragt die Mutter hingegen: "Wie ist das eigentlich für dich, wenn ich bei dir über die Trotzphase meiner Dreijährigen jammere?", signalisiert sie Verständnis und daraus kann sich vielleicht ein vertrautes Gespräch entwickeln. Schön wäre es auch, wenn Kinderlose im Leben von Kindern eine wichtige Rolle übernehmen dürften, zum Beispiel als Gotte. Davon würden ja beide Seiten profitieren. Doch mir scheint manchmal, dass man diese Aufgabe einer Kinderlosen weniger zutraut.
swissmom: Bis jetzt haben wir vor allem über den Kinderwunsch der Frauen geredet. Welche Rolle spielen die Männer?
Annette Wirthlin: Es gibt selbstverständlich auch Männer, die einen unerfüllten Kinderwunsch haben. Mein Buch fokussiert aber auf die biologische Uhr, und diese tickt nun mal bei den Männern nicht oder kaum. Beim Mann wird der Kinderwunsch meist erst durch die Frau ausgelöst, klappt es nicht mit dem Schwangerwerden, ist er aber Mitleidender. Bei diversen Frauen, die ich in meinem Buch portraitiere, ist der Mann mit ein Grund für die Kinderlosigkeit der Frau. Wenn zwei Vierzigjährige zusammenkommen und er findet, er möchte noch ein paar Jahre warten, bevor er Kinder haben will, ist es für die Frau bald einmal zu spät, er hingegen kann mit einer jüngeren Frau noch immer eine Familie gründen. Pro Jahr werden in der Schweiz 15000 Männer im Alter zwischen 40 und 50 Vater, bei den Frauen sind es gerade mal 5000, die in diesem Alter noch ein Kind bekommen. Die Dringlichkeit, die das Thema für eine Frau hat und den Schmerz, den es auslöst, kann ein Mann also nur erahnen und es wäre gut, wenn Männer besser verstehen würden, welche Bedeutung das Thema für die Frau hat.
swissmom: Theoretisch könnte eine Frau ihren Kinderwunsch auch ohne Partner erfüllen. Für die meisten Frauen in Ihrem Buch war dies aber keine Option. Warum?
Annette Wirthlin: Wir haben in der Gesellschaft noch immer die Vorstellung dass Vater, Mutter und Kind eine Einheit bilden. Es ist zwar längst nicht mehr der Standard, unkonventionelle Lösungen und Patchwork-Familien werden immer häufiger, dennoch ist dieses Ideal tief verankert. Erst wenn eine Frau fürchtet, sie könne in diesem Rahmen kein Kind mehr bekommen, fängt sie an, sich zumindest theoretisch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sie auch ohne festen Lebenspartner Mutter werden könnte.
swissmom: Ein weiteres Thema ist die Fortpflanzungsmedizin. Verleiten die neuen Möglichkeiten manchmal dazu, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt und den Kinderwunsch zu lange aufschiebt?
Annette Wirthlin: Die Meinung, die Medizin könne es dann schon noch richten, ist tatsächlich verbreitet. Manche lehnen sich deshalb zurück und denken, sie hätten noch viel Zeit. Die Medien mit ihren Berichten über prominente späte Mütter tragen ihren Teil dazu bei. Dass diese Schwangerschaften meist durch fremde Eizellenspenden zustande gekommen sind, wird in den Berichten verschwiegen. Auch wenn man mit Hilfe der Fortpflanzungsmedizin die biologischen Grenzen erweitern kann, bleibt statistisch gesehen doch eines von sechs Paaren ungewollt kinderlos.
swissmom: Lässt sich mit dem Einfrieren von Eizellen, dem sogenannten "Social Freezing" mehr Zeit gewinnen?
Annette Wirthlin: Eigentlich müsste eine Frau sich die Eizellen entnehmen lassen, bevor sie 30 ist, also vielleicht schon bevor sich der Kinderwunsch bemerkbar macht. Die Zahl und Qualität der Eizellen nimmt mit zunehmendem Alter stetig ab, die Chancen auf Erfolg sind bei einer Entnahme im Alter zwischen 35 und 39 deutlich geringer. Die Anbieter versprechen, dass man durch das Einfrieren von Eizellen Zeit gewinnen kann, die biologische Uhr lässt sich aber nicht zurückdrehen, höchstens einen Moment lang anhalten.
swissmom: Die biologische Uhr hat schon bei unseren Müttern und Grossmüttern getickt. Was ist heute anders als früher?
Annette Wirthlin: Da sind einmal die oben erwähnten Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin. Aber auch anderes hat sich verändert. Unsere Gesellschaft fördert den Umstand, dass Frauen die Erfüllung ihres Kinderwunsches fast verpassen. Heute haben 22 % aller Frauen in der Schweiz einen tertiären Bildungsabschluss, also einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. 1999 waren es erst 9 %. Wer mehr Zeit in seine Ausbildung steckt und diese auch beruflich anwenden möchte, denkt erst später ans Nestchenbauen. Auch in Sachen Berufstätigkeit hat sich viel verändert. Heute sind 80% aller Frauen in der Schweiz berufstätig, bei den Müttern von kleinen Kindern sind es 73 %. Geblieben ist aber der Umstand, dass Kinderbetreuung weitgehend eine Angelegenheit der Mütter ist, Betreuungsangebote und Teilzeitmodelle für Väter lassen sehr zu wünschen übrig. Dies hat zur Folge, dass Frauen entweder Karriere und Kinder unter einen Hut bringen, oder sie zeitlich aneinander vorbeibringen müssen. Statistische Hochrechnungen zeigen, dass jede vierte Frau mit Jahrgang 1970 kinderlos bleiben wird, bei den Frauen, die heute 60 sind, war es noch jede Fünfte. Viele der Frauen, die kinderlos bleiben, haben einen tertiären Bildungsabschluss.
swissmom: Hat sich noch anderes verändert?
Annette Wirthlin: Die Ansprüche an eine Beziehung haben sich gewandelt. Früher hatte man einen Schulschatz, hat irgendwann geheiratet und, so Gott will, Kinder bekommen. Heute will man nicht in der erstbesten Beziehung Kinder haben, sondern wartet lieber auf die grosse Liebe. Dank Verhütung kann man entscheiden, ob und wann man Kinder haben will. Familie ist eine Option von vielen. Reisen, teuere Hobbys, etc. sind spannende Alternativen, die mit Kindern nicht möglich sind, darum will man nicht allzu früh auf ein Familienleben einspuren. Das macht es für eine Frau, die in einem kritischen Alter noch keinen Partner hat, nicht einfach, jemanden zu finden, der bereit ist, auf all dies zu verzichten und eine Familie zu gründen.
swissmom: Welches Fazit ziehen Sie aus den vielen Gesprächen, die Sie für Ihr Buch geführt haben?
Annette Wirthlin: Die Gespräche haben mir gezeigt: Nicht jede Frau, die mit 40 ihren Kinderwunsch noch nicht erfüllt hat, ist einfach selber schuld, unsere Gesellschaft zwingt den Frauen diese Lebensläufe auch auf. Während die eine sich so dringend ein Kind wünscht, dass sie den Weg über die Samenbank wählt, kann sich die andere ein Kind nur in einer Liebesbeziehung vorstellen und nimmt damit vielleicht in Kauf, kinderlos zu bleiben. Wenn man die Geschichte einer Frau kennt, versteht man besser, weshalb sie sich für einen bestimmen Weg entscheidet. Das Ziel meines Buches war es, das Bild der lächerlichen, in Torschlusspanik agierenden Frau zu relativieren. Ich wollte Vorurteile abbauen und zeigen, dass es oft komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge sind, die der Verwirklichung des Kinderwunsches im Weg stehen.