Abgewöhnung des Daumenlutschens
Warum die Abgewöhnung des Daumenlutschens für viele Kinder so schwierig ist und wie es trotzdem gelingen kann
Gastbeitrag von Martina und René Gisler
Daumenlutschen bei Babys und Kleinkindern ist eine Verhaltensweise, die völlig normal und unbedenklich ist. Ab dem 3. Lebensjahr wird insbesondere von ZahnärztInnen empfohlen mit dem Lutschen aufzuhören, damit es nicht zu Zahn- und Kieferfehlstellungen kommt. Die Abgewöhnung kann sich aber als sehr anspruchsvoll gestalten und wird von Eltern wie auch von Zahn- und KinderärztInnen oftmals unterschätzt.
Warum sollte man mit dem Daumenlutschen aufhören?
Das Daumenlutschen ist ein ganz natürliches Verhalten und besonders Babys hilft das Nuckeln sich selber zu beruhigen, sich zu regulieren und in vielen Fällen auch beim Einschlafen. Durch das Nuckeln und Saugen wird aber auch ein konstanter Druck auf Kiefer und Zähne ausgeübt. Dieser Druck führt über längere Zeit zu vielfältigen Veränderungen beim sich in Entwicklung befindenden Kind.
Lange anhaltendes Daumenlutschen, über das 3 Lebensjahr hinaus, hinterlässt deutliche Spuren an Zähnen und Kiefer, wie beispielsweise schiefe Vorderzähne oder einen offenen Biss. Weiter kann der Kiefer im Wachstum behindert und die Zungenmotorik gestört werden. So ist das Daumenlutschen in 40% der Fälle die Ursache für kieferorthopädische Behandlungen bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt aber auch viele weitere, eher subtilere Auswirkungen. Dadurch, dass die Ruheposition der Zunge bei daumenlutschenden Kindern verschoben wird, kommt es oft auch zu Problemen in der Sprachentwicklung. Weit verbreitet sind auch Abweichungen beim Trink- und Schluckverhalten, sowie eine gestörte Atmung.
Wieso es für viele Kinder so schwierig ist mit dem Daumenlutschen aufzuhören
Oberflächlich betrachtet haben sich die betroffenen Kinder an das Daumenlutschen gewöhnt und wollen es einfach nicht aufgeben. Eltern empfinden das Kind dann als stur, nicht kooperationsbereit oder willensschwach, wenn es mit der Abgewöhnung nicht sofort klappt.
Eine genaue Betrachtung zeigt aber, dass das Daumenlutschen keine einfache Angewohnheit, sondern sehr tief im Gehirn verankert ist. Die Kinder haben sich stark an die Gefühle wie auch die Hormone gewöhnt, die durch das Daumenlutschen ausgelöst werden. Durch das Saugen werden Neurotransmitter reduziert, was ein Gefühl der Ruhe, Komfort und Entspannung auslöst und es werden Enkephaline und Endorphine ausgeschüttet, welche den beruhigenden Effekt verstärken. Daumenlutschen lässt sich daher eher mit einem Suchtverhalten vergleichen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang so früh wie möglich ausschliessen zu können, dass das Daumenlutschen als Kompensation für eine anatomische Besonderheit (z.Bsp. ein zu kurzes Zungenband) benutzt wird.
Auf der Suche nach Hilfe für die Abgewöhnung erhalten Eltern oftmals den Ratschlag Geduld zu haben, das Kind zu loben, wenn es einige Zeit nicht genuckelt hat und für Ablenkung zu sorgen. Dies kann funktionieren, wenn die Angewohnheit nur leicht verfestigt ist und so hören auch einige Kinder im Alter von 3-4 Jahren von selbst mit dem Daumenlutschen auf, weil sie andere Wege finden sich zu entspannen. Aber gerade bei Kindern, die ein stark verankertes Daumenlutschen haben, zeigen diese Strategien kaum eine Wirkung. Auch die oft angepriesenen bitteren Tinkturen für die Fingernägel haben so gut wie keinen Effekt.
Oftmals führt das vermeidliche Unvermögen des Kindes damit aufzuhören zu einer grossen Frustration, sowohl beim Kind wie auch bei den Eltern. Zusätzlicher Druck oder den Finger herausziehen, sind aber kontraproduktiv. Um mit dem Druck und der Enttäuschung umzugehen, beruhigen sich Kinder dann oftmals mit einem vermehrten Nuckeln am Daumen.
Wie es trotzdem gelingen kann
Jedes Kind ist anders und so fällt es einigen Kindern relativ leicht mit der Abgewöhnung und andere brauchen sehr viel Zeit und Begleitung. In der Praxis hat sich ein mehrstufiges Verfahren als erfolgsversprechend erwiesen.
Erste Schritte
In einem ersten Schritt geht es darum beim Kind ein Verständnis der Thematik zu wecken. Als mögliche Türöffner zum Thema gibt es Kinderbücher aber auch ein Besuch bei der Zahnärztin oder dem Zahnarzt kann helfen, um das Verständnis zu schaffen. Man kann sein Kind auch fragen, wieso es gerne am Daumen lutscht, was es dabei fühlt oder wie der Daumen schmeckt.
Danach gilt es erstmals ein paar Wochen abzuwarten und zu sehen wie das Kind reagiert. Als Eltern sollte man aber keinen Druck aufbauen. Es lohnt sich das Kind zu begleiten, es dabei aber nicht zu beurteilen.
Die bekanntesten Kinderbücher sind Anna und Dedo- Ein Daumen traut sich raus und Philip und der Daumenkönig. Eine Beschreibung aller deutschsprachigen Kinderbücher zum Thema Daumenlutschen findet sich auf Daumenkinder.com unter Buchreview.
Leichte subtile Hilfsmittel
Wenn das Kind selber aufhören will, gibt es einige kleine Strategien, die ihm dabei helfen können. Gut funktionieren bei diesen Kindern Geschichten. So kann man dem Daumen ein Gesicht aufmalen und einen Namen geben. Dies kann man wunderbar auch mit einem Kinderbuch verbinden. Ein Belohnungskalender kann zudem sehr motivierend sein. Spezielle Daumenhandschuhe aus Stoff können helfen, dass der Daumen nicht unbewusst (beispielsweise im Schlaf) im Mund landet.
Ansatz der «positiven Verhaltensänderung»
Beim Ansatz des positiven Verhaltensänderung wird das Kind mit einem speziell entwickelten Programm darin begleitet mit dem Daumenlutschen aufzuhören. Kernkomponenten sind dabei eine enge Begleitung, der Aufbau eines Belohnungssystems und spezifische Techniken, damit sich das Kind mit anderen Methoden als dem Daumenlutschen beschäftigt, um die gesteckten Ziele zu erreichen.
Die Methode erfordert aber ein grosses Vorwissen oder eine professionelle Begleitung. Im englischen Sprachraum gibt es einige Fachkräfte, die sich genau darauf spezialisiert haben, so genannte «thumbsucking professionals». Leider kennen wir bisher keine Fachkräfte, die dies auf Deutsch anbieten. Alternativ kann man das Programm auch selber durchführen, eine ausführliche Beschreibung findet sich im englischsprachigen Buch «Two Thumbs Up» von Christine Stevens Mills *. Dieses Programm erfordert aber viel Kooperation des Kindes und ist daher erst ab einem Alter von etwa fünf Jahren erfolgsversprechend.
* Ein ausführliches Interview mit Christine Stevens Mills (Expertin zum Thema Daumenlutschen und Abgewöhnung mit mehr als 45 Jahre Erfahrung) findet ihr hier.
Stärkere Hilfsmittel
Ein anderer Ansatz mit sehr guten Erfolgen ist es die Angewohnheit durch Vermeidung zu überwinden. Wenn es dem Kind gelingt 3-5 Tage nicht am Daumen zu lutschen, ist die Angewohnheit schon zu einem grossen Teil überwunden.
Dabei kommt eine Art Schutzhülle zum Einsatz, die über den Daumen getragen wird. Diese kann vom Kind nicht selber abgezogen werden. Das Kind kann zwar den Daumen immer noch in den Mund stecken, ein Aufbau einer Saugwirkung wird aber durch das Design verhindert. Die Abgewöhnung gestaltet sich somit ähnlich, wie wenn man einem Kind den Schnuller wegnimmt.
Die Methode funktioniert äusserst effizient. Untersuchungen zeigen eine Erfolgsrate von über 90%. Gerade die ersten Tage dieses Programmes sind aber für Kind und Eltern anspruchsvoll. Viele der Kinder haben sich seit frühster Kindheit daran gewöhnt sich mit dem Daumen zu beruhigen und damit einzuschlafen. Wenn dieser entzogen wird, kann es zu einer ziemlichen Frustration führen. Dies ist aber typischerweise nach 2-5 Tagen überwunden, da das kindliche Gehirn sehr schnell neue Verhaltensweisen erlernen kann. Es wird aber empfohlen die Hilfen für mindestens einen Monat (Tag und Nacht) zu tragen, damit sich das neue Verhalten verfestigen kann. Wichtig ist bei dieser Methode eine gute Vorbereitung (siehe Absatz leichte subtile Hilfsmittel) und mit dem Kind zusammen Alternativen zu finden für die Situationen, in denen das Daumenlutschen bisher besonders wichtig war. Möglichkeiten sind Kuscheln (ohne Daumenlutschen), Kuscheltier, einem Holzlöffel eine Identität geben und ihn bemalen, etc.
Es gibt verschiedene Produkte (Daumenheld, TGuard, Kidshandaid) nach diesem Prinzip im Preisrange von 50 – 270 CHF. Ausführliche Reviews der Produkte finden sich auf Daumenkinder.com unter Produktereview – starke Hilfsmittel.
Fazit
Aufgrund der vielen negativen Auswirkungen die langanhaltendes Daumenlutschen haben kann, lohnt es sich dem Kind bei der Abgewöhnung des Daumenlutschens zu helfen. Die Abgewöhnung stellt dabei eine der grössten Herausforderungen dar, die das Kind in diesem jungen Alter zu bewerkstelligen hat. Mit den richtigen Methoden kann dies jedoch bei jedem Kind gelingen.
Auf keinen Fall sollte man mit Druck, Abneigung oder Unverständnis gegenüber dem Kind reagieren, falls es nicht auf Anhieb klappt. Schiefe Zähne lassen sich bedeutend einfacher behandeln als eine schiefe Seele.
Weitere Informationen zum Daumenlutschen
Viele weiter Informationen und Hilfestellungen rund um das Thema Daumenlutschen und Abgewöhnung finden sich auf www.daumenkinder.com. Unter anderem eine Buchreview aller deutschspracheigen Kinderbücher zum Daumenlutschen oder auch eine ausführliche Beschreibung aller möglichen Hilfsmittel für die Abgewöhnung.
Über die Autorin und den Autor
Martina und René Gisler sind Eltern von zwei Mädchen, die beide am Daumen gelutscht haben. Als es um die Abgewöhnung bei der grossen Tochter ging, fühlten sie sich oft verloren. Von Kinderärztin und Zahnärztin erhielten sie keine praktikablen Hilfestellungen und auch Internetrecherchen brachten keine Lösungen. So probierten sie ein halbes Jahr lang vieles aus und waren oft gefrustet. Nach der erfolgreichen Abgewöhnung machten sie es sich zur Mission anderen Familien bei diesem grossen Entwicklungsschritt zu helfen und umfassende Informationen anzubieten. Dadurch entstand das Projekt www.daumenkinder.com. Zusätzlich haben sie ein positives und ermutigendes Kinderbuch zum Thema geschrieben, in dem das Kind die Heldin ist, die ihrem Daumen hilft. Es heisst Anna und Dedo – Ein Daumen traut sich raus. Weitere Informationen auf www.annaunddedo.com
Quellen:
• Steven Mills, Christine (2006). Two Thumbs Up, Understanding and treatment of thumb sucking.
• Joshi, Himanshu et al. (2020). Thumb Sucking, From Cause to Treatment. Lambert Academic Publishing.
• Heitler, Susan (1996). David decides about thumbsucking. Reading Matters.
• Alles zum Thema Daumenlutschen: www.daumenkinder.com