Das Fühlen (Tasten)
Vor der Geburt:
Hinter der scheinbar simplen Fähigkeit des Tastens und Fühlens steckt ein raffiniertes Zusammenspiel von drei primitiven Sinnen. «Primitiv» deshalb, weil diese Sinne sehr früh im embryonalen Stadium gebildet werden. Die Rede ist vom Tastsinn (taktiles System), von der Tiefenwahrnehmung (kinästhetisches System) und vom Gleichgewichtssinn (vestibuläres System).
Der Tast- oder Taktilsinn, das Wahrnehmen über die Sinneszellen in der Haut, ist der erste aller Sinne überhaupt, der sich entwickelt. Bereits ab der 5. Schwangerschaftswoche spürt der Embryo Berührungen an den Lippen, bereits im Alter von acht Wochen soll ein Embryo auf zarte Berührungen reagieren und in der 12. Woche ist der Tastsinn am ganzen Körper ausgebildet. In der 13. Woche hat das Ungeborene schon so ein gutes Gefühl für seinen eigenen Körper, dass es seinen eigenen Mund und seinen Daumen zuordnen und am Daumen lutschen kann.
Das Ungeborene sucht aktiv nach Kontakt mit seiner Umgebung. Ultraschallaufnahmen zeigen, wie Kinder mit der Nabelschnur spielen oder die Plazenta als Kissen benützen. Zwillingskinder stupsen sich gegenseitig an und berühren sich mit ihren Händen. Sicher spürt das Baby auch, wenn der Vater oder die Mutter die Hand auf den Bauch legen.
Kein Zufall ist, dass das Gefühl in den Lippen so früh und ausgeprägt einsetzt. Das Kind nuckelt bereits im Mutterbauch an seinen Fingern und erfährt damit einen positiven Stimulus - die beste Voraussetzung, um nach der Geburt die Mutterbrust zu suchen.
Der zweite «primitive» Sinn ist die Tiefenwahrnehmung, auch als Körpergefühl, Kinästhesie oder Tiefensensibilität bezeichnet. Genau wie beim Tastsinn nehmen wir damit Druck und Spannung wahr – jedoch nicht auf der Haut, sondern im Körperinnern. Dort werden Informationen über Muskelspannung, Gelenkstellungen und -bewegungen an das Gehirn weitergeleitet. Damit lernt das Baby schon ganz früh, wie es sich anfühlt, wenn es seine kleinen Muskeln anspannt oder es völlig relaxed im Fruchtwasser «schwebt». Ohne die Tiefenwahrnehmung könnten wir letzlich nicht wissen, ob unser Knie angewinkelt oder gestreckt, die Hand offen oder zu einer Faust geballt ist.
Zwar gehört der dritte Basissinn, der Gleichgewichtssinn (das vestibuläre System), streng genommen zum Gehörsinn, weil die Reizempfänger für die Wahrnehmung des Gleichgewichts im Innenohr liegen. Dennoch spielt die vestibuläre Sensibilität eine Rolle beim Tast- und Fühlsinn. Denn sie hilft uns, klar zu werden über die Schwerkraft, die Lage im Raum oder die Geschwindigkeit und Richtung von Bewegungen. Der Gleichgewichtssinn entwickelt sich um die 9. Schwangerschaftswoche aus demselben Keimblatt wie das zentrale Nervensystem. Die Mutter stimuliert den Gleichgewichtssinn allein durch ihre Bewegungen. Gleichzeitig «trainiert» das Kind das Gleichgewicht, indem es strampelt und seine Lage im Bauch verändert. Es behagt ihm zu schaukeln und sich um sich selber zu drehen – es übt damit gleichzeitig für das Leben nach der Geburt. Denn einmal auf der Welt, umgibt das Baby nicht mehr schützendes Fruchtwasser. Es muss lernen, selber zu sitzen und ein paar Monate später ein Bein vor das andere zu setzen, ohne seitlich oder kopfüber hinzuplumpsen.
Nach der Geburt:
Neugeborene und Säuglinge haben einen besonders guten Tastsinn im Lippen-Zungenbereich, weshalb sie ihre Umgebung hauptsächlich mit dem Mund erforschen. Da auf Lippen und Zunge überdurchschnittlich viele Hautrezeptoren sitzen, bringt das Baby ein ausgefeiltes Rüstzeug fürs Saugen und Schlucken mit. Und beim Trinken und Nuckeln an der Brust oder am Schoppensauger meisselt das Baby sozusagen sein Feinwerkzeug für die spätere Sprachmotorik.
Ansonsten muss sich der Tastsinn erst noch weiter ausbilden. Abgeschlossen ist dies erst nach dem 2. Lebensjahr. Neugeborene wissen zum Beispiel, dass sie berührt werden, können aber nicht genau orten, wo. Damit sich der Tast- und Gleichgewichtssinn optimal entwickeln, brauchen Babys Bewegung und viel direkten Hautkontakt. Eltern sollten deshalb viel mit ihren Babys hopsen, tanzen und kuscheln.
Neugeborene sind zunächst relativ temperaturunempfindlich, allerdings zeigen sie sich irritiert, wenn ihnen Milch in der Flasche mit mehr als 50 Grad und weniger als 22 Grad Celsius dargeboten wird. Eine Empfindlichkeit gegenüber Druck zeigen unmittelbar nach der Geburt bestimmte Neugeborenenreflexe, die sich durch Berührung auslösen lassen, z.B. der Greifreflex. Jeder Reiz kann zu Schmerzempfindungen führen, wenn er eine bestimmte Intensität überschreitet. Im Unterschied zu früheren Auffassungen besteht kein Zweifel mehr, dass eine gewisse, herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit bei Säuglingen vorhanden ist, die in den ersten Lebenswochen deutlich zunimmt. Dabei ist die Empfindlichkeit am Kopf grösser als an den Extremitäten; Mädchen scheinen empfindsamer auf Schmerzreize zu reagieren als Jungen.