Kinderärzte warnen vor zuviel TV
Aus der Forschung
Fernsehen hemmt die Entwicklung von Kleinkindern statt sie zu fördern. Mit dieser Warnung lässt die Amerikanische Akademie für Pädiatrie (AAP) aufhorchen. Ihre Analyse von 50 Studien zum Thema, veröffentlicht im Fachblatt "Pediatrics", zeigt: Der Fernseher verzögert die Sprachentwicklung, lässt Kinder schlechter schlafen und behindert die Eltern-Kind-Kommunikation. Die Hintergrundgeräusche würden die Kinder auch vom Spielen und anderen Aktivitäten ablenken. Gift ist es, die Kinder zum Einschlafen vor den Fernsehen zu setzen. Auch vor dem Fernsehgerät im Kinderzimmer wird gewarnt.
Je kleiner Kinder sind, umso fatalere Wirkungen hat das Fernsehen. Wenn ein Säugling noch in der Babyschale vor den Fernseher gestellt wird und sich nicht selbst wegbewegen kann, gebe es statt Lerneffekte nur Schäden. Das Gehirn eines Babys brauche sofortige Rückkoppelung. Damit es lernen kann, müssen Eltern nicht nur feinfühlig, sondern auch sofort auf das Kind eingehen, wenn es etwa schreit oder weint. Ein Fernseher reagiert jedoch nie.
Eine deutsche Untersuchung von Robert Schlack bei 10.000 Schulanfängern in Köln aus dem Jahr 2005 ergab, dass sich bei drei Stunden Fernsehkonsum pro Tag die Quote der Sprachstörungen bei Schuleintritt um 50 Prozent erhöht. Bei über vier Stunden verdoppeln sich die grobmotorischen Auffälligkeiten sowie auch die Probleme mit der Augenmotorik.
Längst gibt es Hersteller, die sich auf die Herstellung von Medien für Kleinkinder spezialisiert haben. Viele werben sogar damit, dass der Konsum die kindliche Entwicklung fördere. Das ist nach Einschätzung der American Academy of Pediatrics völlig falsch. Selbst Babysendungen und -DVDs bieten keine Lerneffekte. Studien haben nach Auskunft der Autoren um Ari Brown aus Austin/Texas vielmehr gezeigt, dass Kinder unter 2 Jahren zwar den Bewegungen und den schnell wechselnden Bildern auf dem Bildschirm folgen, den Inhalt aber in keiner Weise verstehen oder verarbeiten und werden dadurch überreizt. Ihre mentale Entwicklung lasse sich folglich durch den Medienkonsum auch nicht fördern. Vielmehr besitzen Kinder einen umso kleineren Wortschatz, je länger sie als Babys fern gesehen haben. Die US-Autoren betonen, dass eine Kindersendung nur dann Qualität bringt, wenn Kinder Inhalt und Kontext verstehen, was frühestens mit zwei Jahren gelingt.
Während die Kinderärzte zum TV-Verzicht unter zwei Jahren mahnen und den Fernseher und andere Unterhaltungselektronik aus dem Kinderzimmer verbannen wollen, sieht die Realität freilich anders aus. In US-Haushalten soll es mittlerweile im Durchschnitt zehn Bildschirmgeräte geben. Und nichts stellt quengelnde Kinder so leicht ruhig, wie die Möglichkeit, sie die bewegten Bilder auf Bildschirmen aller Art verfolgen zu lassen.
In US-Erhebungen gaben 90 Prozent der Eltern von Babys unter zwei Jahren an, dass sie ihre Kinder häufig vor das TV-Gerät setzen - Zweijährige durchschnittlich ein bis zwei Stunden pro Tag. Ab drei Jahren steht in jedem dritten US-Kinderzimmer ein Fernseher.
Eltern sind somit in einer Zwickmühle. Keine Familie will auf den Fernseher verzichten, wenn Kinder kommen. Eine Kompromisslösung könnte sein, auf dem Schoss der Eltern fernzusehen und in stetigem Dialog miteinander zu sein. Wichtig ist auch die Auswahl eines Programms nach Kindgerechtigkeit. Gefährlich ist es, wenn 20-Minuten-Werbeblöcke bloss von wenigen Programmminuten unterbrochen werden, denn Kinderwerbung ist immer hochsuggestiv. Selbst Fünfjährigen sollte man deshalb nie die Fernbedienung überlassen.
Als weitaus bessere Alternative empfehlen Psychologen das Vorlesen, das sogar im Alter von wenigen Monaten bereits beginnen kann. Die US-Kindermediziner raten zum nicht-strukturierten, freien Spiel mit einfachen Gegenständen, bei dem Kinder auf eigene Faust lernen, kreativ zu denken, Probleme zu lösen, ihre Motorik zu entwickeln und sich selbst zu beschäftigen. Die Sprachentwicklung lasse sich am besten durch die Interaktion des Kindes mit Erwachsenen fördern. "Kinder lernen am besten von Menschen, nicht von Bildschirmen", so ihr Resümee.
Aus der Forschung: Council on Communications and Media: Pediatrics, veröffentlicht online am 17.10.2011.
DOI: 10.1542/peds.2011-1753